Du wirst noch an mich denken
Wohnung zu nehmen - und das war auch ganz in Ordnung so, wie sie zu ihrer eigenen Überraschung feststellte. Sie musste sich nicht Hals über Kopf in ihre groß angekündigte Affäre stürzen. Wichtig war, dass sie den ersten Schritt gemacht hatte. Allmählich begann sie, in Seattle ein rundum erfülltes Leben zu führen.
Die Anspannung, unter der sie so lange gestanden hatte, dass sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden war, ließ langsam nach, und sie begann sogar, die vorsichtige Hoffnung zu hegen, dass sie nie mehr etwas mit Wesley zu tun haben musste. Tagelang, manchmal wochenlang verschwendete sie keinen einzigen Gedanken an ihn. Und sie dachte auch nicht besonders oft an ihre Mutter oder ihren Vater oder irgendeinen anderen ihrer Verwandten. Ihr Leben entwickelte sich in eine Richtung, die ihre Familie niemals verstehen würde, geschweige denn akzeptieren, aber sie war glücklich über die Veränderungen, die sie herbeigeführt hatte. In Seattle hatte sie etwas gefunden, das ihr in Georgia verschlossen geblieben war: das Gefühl, einen Zweck im Leben zu haben und dazuzugehören, etwas leisten zu können. Sie wurde rasch erwachsen - wenn auch verspätet -, und sie war stolz auf die Fortschritte, die sie machte. Es war gut, nicht länger zu glauben, ständig über die Schulter blicken zu müssen, und noch besser war es, die Zuversicht zu verspüren, dass das Leben endlich in den richtigen Bahnen verlief.
Dann fingen die Anrufe an.
In der ersten Zeit war es leicht, sie zu ignorieren. Das Telefon läutete, aber wenn sie abhob, wurde am anderen Ende sofort aufgelegt, ohne dass sich jemand gemeldet hätte. Es war lästig und nervig, aber die Anrufe erfolgten so unregelmäßig, dass Aunie annahm, sie habe es lediglich mit einem unhöflichen Mitmenschen zu tun, der die falsche Nummer gewählt hatte und zu sehr in Eile war oder zu schlecht erzogen, um sich zu entschuldigen, bevor er wieder einhängte. Mitte März waren die Anrufe jedoch zu einem regelmäßigen Ärgernis geworden.
Sie machten ihr keine Angst, sie gingen ihr einfach nur auf die Nerven. Irgendwann wurde aus den gelegentlichen Anrufen ein regelrechtes Bombardement, aber das ging so schrittweise vor sich, dass Aunie zu dem Zeitpunkt, als sie sich schließlich doch Sorgen zu machen begann, nicht einmal hätte sagen können, ob es immer derselbe Anrufer war.
Zum Schluss klingelte das Telefon mehrmals täglich, ohne dass sich jemand meldete, und nachdem sie sich länger als eine Woche damit herumgeplagt hatte, rief sie bei der Telefongesellschaft an, wo man ihr mitteilte, dass sie ein polizeiliches Aktenzeichen brauchte, bevor man ihre Beschwerde bearbeiten konnte. Da sie zu einem solchen Schritt noch nicht bereit war, zog sie los, um sich einen Anrufbeantworter zu kaufen.
Sie hatte diese Anrufe niemandem gegenüber erwähnt, sie ging davon aus, der anonyme Anrufer würde die Lust an diesem Spiel verlieren und damit aufhören. Jetzt musste sie sich jedoch eingestehen, dass das reines Wunschdenken gewesen war. Und weil sie nicht länger die Augen davor verschließen konnte, machte sie vor der Wohnungstür der Jacksons Halt, um mit Otis und Lola darüber zu reden, als sie mit dem neu erstandenen Anrufbeantworter nach Hause kam.
Mary saß auf ihrem Bett und hatte sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Sie hatte ein Knie angezogen und beugte sich über ihren nach oben gebogenen Fuß, um eine zweite Schicht Nagellack auf ihre Zehennägel aufzutragen, während sie darauf wartete, dass Aunie ans Telefon ging.
Als am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde, richtete Mary sich auf. Sie griff nach dem Hörer und hielt ihn mit zwei Fingern fest, bereit für ein längeres Gespräch mit ihrer Freundin. Es war jedoch nicht Aunies Stimme, die an ihr Ohr drang.
»Sie haben die Nummer 3230194 gewählt«, sagte stattdessen eine tiefe und bedrohlich klingende männliche Stimme. Es folgte eine Sekunde Pause, und dann setzte sie schroff hinzu: »Warum?« Piep.
Mary hätte nicht sagen können, warum sie den Hörer auf die Gabel knallte, es war eine instinktive Reaktion. Ihr Fuß rutschte von der Matratze, die Zehen mit den Wattebällchen dazwischen noch immer starr nach oben gerichtet. Langsam steckte sie den Pinsel zurück in das Nagellackfläschchen und schraubte den Verschluss zu.
»3230194«, flüsterte sie vor sich hin. Das war Aunies Nummer. Allerdings hatte ihre Freundin nichts davon gesagt, dass sie sich einen Anrufbeantworter zugelegt
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