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Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist

Titel: Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Cameron Stefanie Kremer
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durchführte. Immerhin war sie ein Doktor der Medizin. Aber ich nahm an, dass Gehirnchirurgen Lobotomien durchführen und keine Psychiater. Sofern sie überhaupt noch durchgeführt werden. Der Gedanke der Lobotomie fasziniert mich, die Vorstellung, dass man das Gehirn öffnet und ein wenig darin herumschnippelt und es dann wieder schließt, als würde man ein Auto reparieren oder so etwas. Und der Mensch wacht wieder auf und ist ein bisschen dumm, aber dumm auf eine glückliche, sorglose Weise. Auch die Schocktherapie fasziniert mich - all diese Eingriffe, die vorgenommen werden, um das Gehirn eines Menschen zu verändern. Als Gillian und ich noch klein waren, spielten wir immer ein Spiel, das wir«Nervenheilanstalt»nannten. Gillian war die Ärztin, und ich war der Patient, und sie verabreichte mir eine Schockbehandlung. Sie betupfte meine Schläfen mit einem Wattebausch, den sie mit Listerine getränkt hatte, schob mir den Mundschutz von ihrer Hockeyausrüstung in den Mund und stülpte mir dann die Kopfhörer über. Wenn sie das Kabel in die Stereoanlage stöpselte, machte ich mich ganz steif und verdrehte die Augen und zuckte wie bei einem epileptischen Anfall, und Gillian hielt mich fest und sagte:«Schschschschschsch.»Es ist schon komisch, welche Seiten des Lebens Kinder in ihr Spiel aufnehmen. Ich wollte gerade darüber nachdenken, darüber, dass wir die eintönigsten Dinge des Erwachsenenlebens hatten übernehmen wollen: Wir hatten Büro gespielt, Kaufladen, Nervenheilanstalt, als mir wieder einmal bewusst wurde, dass Dr. Adler etwas sagte.
    «Was?», fragte ich.
    «Unsere Zeit ist um», sagte sie.«Wir sehen uns - wie wäre es mit Donnerstag? Haben Sie Donnerstag Zeit?»
    «Ja», sagte ich.
    «Gut. Wir sehen uns um die gleiche Zeit, aber in meiner Praxis in Downtown. Hier ist die Adresse.»Sie gab mir eine Visitenkarte.
    Ich versuchte herauszufinden, wie es sein konnte, dass unsere Sitzung so schnell vorüber war. Ich wollte auf meine Uhr blicken, konnte mich aber nicht dazu durchringen, es vor ihren Augen zu tun. Sie benahm sich ganz normal, als dauerten alle psychotherapeutischen Sitzungen zehn Minuten und als würde der größte Teil der Zeit damit verbracht, dem anderen alles nachzusprechen oder zu schweigen.
    «Passt Ihnen das?», fragte sie.
    «Ja», sagte ich.
    «Gut», sagte sie.«Bis dann.»Sie strahlte mich an, als hätten wir höchst angenehm miteinander geplaudert, und dann drehte sie sich in ihrem Stuhl herum und wandte mir mit einer Bewegung den Rücken zu, die mir ganz klar zeigte, dass ich entlassen war.

6
    Samstag, 26. Juli 2003
    Vom Bahnhof Grand Central nahm ich den Zug der Harlem-Linie um 10.23 Uhr, der um 11.03 Uhr in Hartsdale ankommt. Bis zum Haus meiner Großmutter in der Wyncote Lane Nr. 16 waren es noch etwa 20 Minuten zu Fuß. Sie wohnt in einem Haus im Tudor-Stil, das in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts erbaut worden ist und wie durch ein Wunder noch all seine ursprünglichen Besonderheiten besitzt. Niemand hatte die Wandtäfelung aus Mahagoni herausgerissen oder auf den Böden mit den Mosaikfliesen einen Teppich verlegt oder die Ziegel, die Stuckelemente oder die steinerne Fassade mit Aluminium verkleidet. Es gibt keine Klimaanlage, aber das Haus ist von sehr alten Bäumen umgeben, die Schatten spenden, und es hat dicke Wände aus Stein, und so bleibt es schön kühl. Am besten gefällt mir, dass alle Türeinfassungen oben rund und alle Türen entsprechend geformt sind, wundervolle holzgetäfelte Türen, die vollkommen in ihre gewölbten Stürze passen. Man bekommt dieses angenehme (und seltene) Gefühl vermittelt, dass, wer auch immer dieses Haus gebaut hat, seine Arbeit liebte und es nicht eilig hatte.
    Die Eingangstür war offen, als ich ankam, und ich spähte durch das Fliegengitter. Das Haus wirkte dunkel und kühl und still; auf dem Tisch in der Eingangshalle stand eine Vase mit Dahlien neben drei übereinander gestapelten Büchern aus der Bibliothek. Ich drückte mein Gesicht näher an das Fliegengitter und rief,«Nanette!»hindurch. Einen Augenblick später hörte ich, wie sie die Treppe herunterkam, und dann konnte ich sie sehen: zuerst die Füße, dann die Beine, und dann erschien langsam der Rest von ihr. Meine Großmutter geht immer langsam die Treppe hinab, seitwärts, die Hüfte voran, eine Hand auf dem Treppengeländer, und die Füße setzt sie waagrecht auf die Stufen. Sie pflegt zu sagen, eine Dame solle niemals nach vorne gewandt die Treppe

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