Du wirst schon noch sehen wozu es gut ist
Proust?»
«Nein, Proust habe ich nicht gelesen. Ist das ein Problem für Sie?»
«Nein», sagte ich.«Ich war nur neugierig. Ich habe auch noch nichts von Proust gelesen. Jemand meinte, ich solle Proust nicht lesen, bevor ich nicht meine erste Liebe und den ersten Liebeskummer erlebt hätte.»(Das hatte John Webster gesagt. Eigentlich hatte ich vorgehabt, während des Sommers Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder À la recherche du temps perdu zu lesen, aber als ich am ersten Tag In Swanns Welt mit in die Galerie brachte, nahm er es mir weg und sagte, es sei ein Verbrechen, in meinem Alter Proust zu lesen. Er ließ mich versprechen, es nicht zu lesen, ehe ich nicht die Liebe gefunden und wieder verloren hätte. Ich muss zugeben, dass ich ziemlich erleichtert war, denn ich fand es recht schwierig, aber ich hatte auch erst etwa 30 Seiten gelesen.)
«Ich verstehe», sagte sie.
Ich hasse es, wenn Leute sagen:«Ich verstehe.»Es bedeutet nicht das Geringste, und ich finde, es wirkt feindselig. Wann immer jemand zu mir sagt:«Ich verstehe», habe ich das Gefühl, dass in Wirklichkeit«Leck mich am Arsch»gemeint ist. Ich wollte sie schon fragen, was sie denn verstehe, aber dann wurde mir klar, dass das nirgendwohin führen würde, und so sagte ich nichts.
Nach einem kurzen Schweigen fragte sie:«Wie geht es Ihnen heute?»
Ich merkte, dass es mich traurig machte, in der Praxis einer Seelenklempnerin zu sitzen und von dieser Seelenklempnerin gefragt zu werden, wie es mir gehe, also sagte ich:«Ich bin traurig.»Aus irgendeinem Grund schloss ich die Augen.
«Traurig?», fragte sie.
«Ja», sagte ich.
Nach einem Moment fragte sie:«Wissen Sie, weshalb Sie traurig sind?»
Ich machte die Augen wieder auf. Obwohl es nur ein paar Sekunden gedauert hatte, fühlte ich mich, als wäre ich eine lange Zeit fort gewesen, auch wenn alles noch genauso wie vorher war. Dr. Adler sah mich geduldig an, auf diese Art, wie ein Psychiater seinen Patienten ansieht, ihr Gesicht zeigte nicht die geringste Regung außer einem Hauch von Besorgnis. Nach einem Augenblick sagte sie:«Wie lange sind Sie schon traurig?»
Ich weiß, dass sie das grundsätzlich meinte, aber ich konnte doch nicht«Schon immer»sagen. Ich konnte aber auch nicht sagen, wie viele Tage oder Monate oder Jahre schon. Es war ja nicht so, als wäre ich eines Morgens mit Fieber aufgewacht.
«Schon ziemlich lange», sagte ich.
«Tage?», fragte sie.«Wochen? Monate?»Sie machte eine Pause.«Jahre?»
«Jahre», sagte ich.
«Zufällig weiß ich, dass Ihre Eltern geschieden sind. Glauben Sie, Ihre Traurigkeit hat damit zu tun?»
«Na ja, geholfen hat es bestimmt nicht.»
«Dann waren Sie auch schon vorher traurig?»
«Ja», sagte ich,«und ich wünschte, Sie würden mir sagen, was Sie sonst noch über mich wissen. Ich nehme an, Sie haben mit meinem Vater gesprochen?»
«Ja. Ich habe mit Ihren beiden Eltern gesprochen. Aber nur kurz.»
«Was haben sie Ihnen erzählt?»
«Sie sagten, sie würden sich Sorgen machen, da Sie nicht besonders glücklich wirken. Sie sagten, Sie würden jede Gesellschaft meiden und sähen einsam aus. Sie haben auch jenen Vorfall beim Nationalen Klassenzimmer vergangenen Monat erwähnt.»
«Es war Das Amerikanische Klassenzimmer», sagte ich.
Sie zog eine Wo-liegt-der-Unterschied-Miene.
«Was haben sie Ihnen darüber erzählt?»
«Sie sagten, Sie hätten einige Probleme mit der Gruppendynamik gehabt und eine Panikattacke bekommen.»
«Eine Panikattacke - so haben sie es genannt?»
«Das sind wahrscheinlich meine Worte. Würden Sie es anders ausdrücken?»
«Nein», sagte ich,«das trifft es ziemlich gut.»
«Gibt es irgendetwas, was Sie hinzufügen möchten?»
«Sie meinen, ob mit mir noch andere Dinge nicht stimmen?»
«Glauben Sie, dies war eine Liste mit Dingen, die mit Ihnen nicht stimmen?»
«Sie können einfach nicht damit aufhören, oder?»
«Womit aufhören?»
«Fragen mit Fragen zu beantworten. Sie klingen haargenau wie ein Therapeut.»
«James, ich bin Therapeutin. Psychiaterin, um genau zu sein. Eine Ärztin. Ich bin nicht hier, um mit Ihnen so zu plaudern, wie Sie es für richtig halten. Ich denke, das wissen Sie auch.»
Ich schwieg und hoffte, nicht beleidigt auszusehen.
«Wissen Sie das?», fragte sie.
«Ja», sagte ich.«Ich weiß es. Es ist nur …»
«Was?»
«Es kommt mir so dumm vor, wenn Sie das machen, mir auf diese Weise antworten. Es ist so vorhersagbar. Ich meine, das könnte ich auch selbst
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