Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
besonders lang e zu mustern, aber ich bemühe mich angestrengt, so zu tun, als bemerke ich nichts. Ich halte den Kopf gesenkt und eile Richtung Sporthalle, um mich mit James zu treffen.
Bevor ich in den kaltweißen Gang mit den Doppeltüren aus Metall abbiege, vergewissere ich mich mit einem Blick über die Schulter, dass mir niemand folgt. Man kann so gut wie gar nicht mehr darauf vertrauen, dass es noch Leute gibt, die einen nicht gleich wegen verdächtigem Verhalten denunzieren. Nicht einmal die eigenen Eltern – vor allem nicht die eigenen Eltern.
Es war Laceys Vater, der »Das Programm« verständigt und ihnen gesagt hat, dass sie sich unwohl fühle. Deshalb strengen James, Miller und ich uns auch so an, zu Hause die Fassade aufrechtzuerhalten. Lächeln und plaudern, das bedeutet, ausgeglichen und gesund zu sein. Ich würde es nie wagen, meinen Eltern ein anderes Gesicht zu zeigen. Nicht mehr.
Aber sobald ich achtzehn bin, kann mir »Das Programm« nicht mehr gefährlich werden. Dann bin ich nicht mehr minderjährig, und sie dürfen mir nicht länger eine Behandlung aufzwingen. Obwohl die Gefährdung weiterhin bestehen bleibt, ist »Das Programm« an die Gesetze unseres Landes gebunden. Als Erwachsene habe ich das gottgegebene Recht, mir das Leben zu nehmen, wenn mir danach ist.
Es sei denn, die Epidemie weitet sich aus. Wer weiß, was sie dann tun.
Als ich zur Tür der Sporthalle komme, schiebe ich den kalten Metallriegel zur Seite und schlüpfe hindurch. Seit Jahren schon wird dieser Teil der Schule nicht mehr benutzt. Gleich, nachdem »Das Programm« die Kontrolle ü bernommen hatte, wurde Sport gestrichen, angeblich, we il dieses Fach zu viel Wettbewerbsstress für uns labile Schüler bedeutet. Jetzt stellen sie hier allen Krempel ab, den sie nicht brauchen – nicht benötigte Klassentische stapeln sich hier, genauso wie nicht benutzte Schulbücher.
»Hat dich jemand gesehen?«
Ich zucke zusammen und sehe James an, der in der schmalen Lücke hinter den abmontierten Tribünen steht. Unser Treffpunkt. Die Rüstung aus Gefühllosigkeit, die ich stets trage, bekommt Risse.
»Nein«, flüstere ich. James streckt eine Hand nach mir aus, und ich laufe zu ihm, schmiege mich eng an ihn. »Heute ist kein guter Tag«, flüstere ich an seinen Lippen.
»Es gibt kaum noch gute Tage.«
James und ich sind nun schon seit mehr als zwei Jahren zusammen, seit ich fünfzehn war. Aber ich kenne ihn bereits mein ganzes Leben. Er war der beste Freund meines Bruders. Bis Brady sich umgebracht hat.
Die Erinnerung daran nimmt mir den Atem, als würde ich darin ertrinken. Ich lasse James los und schlage meinen Hinterkopf gegen die hölzerne Tribüne. Vor Schmerz zucke ich zusammen, berühre meinen Kopf, doch ich weine nicht. Ich würde es niemals wagen, in der Schule zu weinen.
»Lass mich sehen«, bittet James und streicht mit den Fingern über die schmerzende Stelle. »Wahrscheinlich hat all das viele Haar deinen Dickkopf geschützt.« Er grinst und fährt mit seiner Hand durch meine dunklen Locken, lässt die Hand dann auf meinem Nacken liegen, eine beschützende Geste. Als ich sein Lächeln nicht erwidere, zieht er mich enger an sich heran. »Komm her«, flüstert er, als er mich in die Arme nimmt, und klingt ein wenig erschöpft.
Ich drücke ihn, lasse die Bilder von Brady in meiner Erinnerung verblassen, genau wie jenes Bild von Lacey, wie sie von Betreuern aus ihrem Elternhaus gezerrt wird. Eine meiner Hände gleitet unter den Ärmel von James’ T-Shirt, dorthin, wo sich die Tattoos befinden.
»Das Programm« raubt uns die Namen, nimmt uns unser Recht zu trauern. Denn wenn wir es tun, werden wir ausgesondert, weil wir deprimiert wirken. Also hat sich James etwas anderes ausgedacht. Mit dauerhafter Tinte hat er sich eine Liste in die Haut geritzt, von all jenen, die wir verloren haben. Angefangen mit Brady.
»Mich quälen schlimme Gedanken«, vertraue ich ihm an.
»Dann hör auf zu denken«, erwidert er nur.
»Sie haben gerade Kendra abgeholt. Es war grässlich. Und Lacey …«
»Hör auf zu denken«, wiederholt er, diesmal ein bisschen eindringlicher.
Ich schaue zu ihm auf, suche seinen Blick, und immer noch liegt diese Schwere in meiner Brust. Hier in dem Dämmerlicht kann man es kaum erkennen, doch James’ Augen sind von einem klaren Blau, einem so kristallklaren Blau, dass ein Blick reicht, um andere Leute verstummen zu lassen. Es ist großartig, wenn er das tut.
»Küss mich lieber«, murmelt er.
Ich
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