Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
nicht hier sein.
»Gibt es überhaupt einen konkreten Plan?«, erkundige ich mich. »James wollte mir nichts verraten.«
Miller starrt weiter durch die Windschutzscheibe, er scheint mich gar nicht zu hören. »Weißt du eigentlich, dass Lacey von Natur aus blond ist?«, fragt er schließlich, und seine Stimme klingt, als komme sie aus weiter Ferne. »Sie hat ihr Haar ja immer rot gefärbt, und ich dachte, sie wäre eigentlich brünett. Ist sie aber nicht. Ich hab mal ein altes Foto von ihr gesehen. Ich bin ein Idiot, dass ich das nicht wusste, nicht wahr? Ich hätte es wissen sollen.«
Lacey und ich, wir waren seit der Grundschule Freundinnen, daher kann ich mich daran erinnern, dass sie blonde Zöpfe hatte. Unsinnig eigentlich, sich wegen ihrer Haarfarbe mies zu fühlen, aber Miller fühlt sich tatsächlich mies. Als hätte das Lacey davor bewahren können, abgeholt zu werden, hätte er dieses Detail gekannt.
»Sie hat dich geliebt«, flüstere ich, obwohl es fast schon grausam ist, dies ausgerechnet jetzt zu erwähnen. »Wirklich und wahrhaftig.«
Miller lächelt, doch sein Lächeln wirkt angestrengt. »Wenn man sich an etwas nicht erinnern kann, dann ist das, als wäre es nie passiert. Und weil sie sich nie mehr …« Er bricht ab, starrt wieder auf das große Gebäude.
Ich denke an die Lacey, wie wir sie gekannt haben, bevor sie weggebracht wurde. Knallig rotes Haar und schwarze, eng sitzende Klamotten. Sie war so etwas wie eine Naturgewalt. Unglaublich präsent. Und doch hatte sie sich verändert, in der Zeit, bevor man sie in »Das Programm« brachte. Aber keiner von uns hat ein Wort darüber verloren – vielleicht hofften wir, dass es von allein wieder besser werden würde. Wir alle haben sie im Stich gelassen.
An jenem Abend warteten die Betreuer, die sie fortbringen sollten, bereits in ihrem Elternhaus. Wir haben Lacey als Erste abgesetzt, und ich kann mich noch daran erinnern, wie James dumme Witze über den fremden Wagen machte, der in der Einfahrt stand. Wie er sagte, dass es schon ziemlich spät für den Besuch von Freunden sei, aber vielleicht wären sie ja Swinger.
Lacey lächelte nur, lachte nicht. Ich dachte, sie wäre einfach müde. Ich hätte sie fragen sollen, ob alles in Ordnung war.
Aber ich habe es nicht getan.
Sie gab Miller noch einen flüchtigen Kuss, dann stieg sie aus und ging zum Haus. Sie hatte es kaum betreten, als wir sie schreien hörten. Wir alle sprangen aus dem Wagen, doch in diesem Moment wurde die Haustür erneut geöffnet.
Ich werde diesen Anblick nie aus meinem Kopf kriegen. Auf beiden Seiten hielten die Männer in den weißen Kitteln sie gepackt. Sie schlug nach ihnen, schrie, dass sie sie umbringen würde. Sie schaffte es, sich loszureißen, und versuchte, ins Haus zurückzukriechen. Rief nach ihrer Mutter, als die Betreuer sie erneut nach draußen zerrten. Tränen hatten mascaraschwarze Streifen über ihre Wangen gezogen, und sie bettelte die Männer an, sie doch gehen zu lassen.
Miller wollte zu ihr, doch James hielt ihn zurück, nahm ihn in den Schwitzkasten. »Zu spät«, flüsterte James.
Ich sah ihn scharf an, aber ich sah auch die Verzweiflung in seinem Gesicht. Die Furcht. Er wagte es erst, mir in die Augen zu schauen, als er mich aufforderte, wieder in den Wagen zu steigen.
Er schob Miller und mich auf die Rückbank, dann setzte er sich hinters Steuer und fuhr eilig davon. Miller hielt mich an meiner Bluse gepackt, so fest, dass sie am Kragen zerriss.
Das Letzte, was wir von Lacey sahen, war, wie sie von einem der Betreuer getasert wurde, zuckend auf dem Boden lag wie ein erstickender Fisch.
Ich greife nach Millers Hand, versuche, seine Finger vom Lenkrad zu lösen. Als es mir schließlich gelungen ist, dreht er mir das Gesicht zu.
»Glaubst du, dass es eine Chance gibt, Sloane?«, fragt er fast schon verzweifelt. »Glaubst du, dass es eine Chance gibt, dass sie sich an mich erinnert?«
Die Frage bricht mir fast das Herz, und ich presse meine Lippen fest zusammen, um nicht zu weinen. Es gibt keine Chance – »Das Programm« ist gründlich. »Das Programm« funktioniert.
Aber ich ertrage es nicht, ihm das zu sagen, und so zucke ich bloß mit den Schultern. »Möglich ist alles«, behaupte ich und kämpfe gegen das Gefühl des Verlusts an. »Und falls nicht, kannst du ihr erneut näherkommen, sobald sie die Betreuungsphase hinter sich hat. Fang noch einmal von vorn an.«
Wenn sie als geheilt gilt, wird man ihr erlauben, ihr altes Leben wieder
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