Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
beuge mich vor, um meine Lippen auf seine zu pressen, mich ihm auf eine Art hinzugeben, wie es mir nur bei ihm möglich ist. Es ist ein Moment, von Traurigkeit und Hoffnung erfüllt. Ein Band aus Geheimnissen und Versprechen, das uns ewig bindet.
Es ist jetzt zwei Jahre her, dass mein Bruder starb. Über Nacht hat sich unser Leben total verändert. Wir wissen nicht, warum Brady sich umgebracht hat. Warum er uns verlassen hat. Aber … nun ja, niemand weiß ja auch wirklich, was diese Epidemie ausgelöst hat. Nicht einmal »Das Programm«.
Über uns klingelt es zur nächsten Stunde, doch weder James noch ich reagieren darauf. Stattdessen berührt James’ Zunge meine, er zieht mich näher zu sich heran, vertieft unseren Kuss. Obwohl es erlaubt ist, sich zu verabreden, versuchen wir, uns in der Schule zurückzuhalten, zumindest soweit es uns möglich ist. »Das Programm« behauptet, dass uns gesunde Beziehungen emotional stärken, doch wenn eine Beziehung zerbricht, und zwar auf unangenehme Weise, dann lassen sie uns vergessen. »Das Programm« vermag alles auszulöschen.
»Ich hab meinem Dad die Autoschlüssel geklaut«, flüstert James zwischen meinen Lippen. »Was hältst du davon, wenn wir nach der Schule am Fluss schwimmen gehen? Ganz nackt?«
»Wie wär’s, wenn du dich nackt ausziehst, und ich schau einfach zu?«
»Einverstanden.«
Wir lachen, und James drückt mich noch einmal, bevor er seine Arme von mir löst. Er will mir das Haar richten, aber er zerzaust es dabei nur noch mehr.
»Wir sollten jetzt lieber in unsere Klassen gehen«, meint er schließlich. »Und richte Miller aus, er kann gern mitkommen und mir auch zusehen, wie ich nackt schwimme.«
Ich trete ein Stück zurück, hauche einen Kuss auf all meine Finger und tue so, als würde ich ihm all diese Küsse zuwerfen.
James lächelt.
Er hat immer schon gewusst, was er zu mir sagen muss. Wie er mich dazu bringen kann, dass ich mich wieder normal fühle. Ich bin ziemlich sicher, dass ich ohne ihn nach Bradys Tod nicht überlebt hätte. Um genau zu sein, ich weiß, dass ich es sonst nicht geschafft hätte.
Schließlich ist Selbstmord ansteckend, oder?
2. Kapitel
Als ich ins Klassenzimmer trete, hat die Wirtschaftskundestunde schon begonnen, und ich schwindele meinem Lehrer vor, dass die Therapie leider länger gedauert habe, und halte ihm eine der gefälschten Bescheinigungen hin, die James, Miller und ich vor ein paar Wochen angefertigt haben. Seit »Das Programm« mit der Überwachung an unserer Schule begonnen hat, habe ich bei meinem Freund einige Überraschungen erlebt: nicht nur, dass er ein begabter Lügner ist, sondern auch ein meisterhafter Fälscher. Eine Fähigkeit, die sich in letzter Zeit als immer nützlicher erwiesen hat.
Mr. Rocco schaut nur flüchtig auf die Bescheinigung und befiehlt mir mit einer Geste, mich auf meinen Platz zu setzen. Es ist das fünfte Mal in diesem Monat, dass ich zu spät gekommen bin, aber glücklicherweise hat mir bisher niemand Fragen gestellt. Ich habe gelernt, wie ich zufrieden wirke. Und in ihren Augen ist es ein Zeichen dafür, dass ich mich bemühe, gesund zu bleiben, wenn ich die Unterstützung eines Fachmanns suche.
»Hey, Schöne«, flüstert Miller, als ich mich setze. Er hat den Platz neben mir. »Hattet ihr beide eine angenehme Therapie stunde, du und James?« Er schaut auf seinen Schoß, als der Lehrer sich umdreht und etwas auf das White Board schreibt.
Miller und ich sind Freunde seit Anfang letzten Jahres, und wir haben die meisten Unterrichtsstunden zusammen. Er ist groß und kräftig, und ich glaube, wenn unsere Schule ein Footballteam hätte, wäre er der Star der Mannschaft.
»Ja«, erwidere ich. »Ich denke, wir haben diesmal einen echten Durchbruch erreicht.«
»Klar doch.«
Er lächelt, aber er sieht mich nicht an. Stattdessen kritzelt er weiter auf einen Block, den er unter seinem Pult versteckt hat.
Mein Herz klopft wie verrückt, als ich daran denke, was ich ihm nun mitteilen muss.
»Lacey ist wieder da«, sage ich ruhig.
Miller drückt den Stift fester in das Papier. »Wo hast du das gehört?«
Ich versuche zu ignorieren, dass ihm alle Farbe aus dem Gesicht gewichen ist.
»Kendra Phillips hat es mir erzählt, bevor sie kamen und sie …«, ich senke meine Stimme, »… geholt haben.«
Miller sieht mich nun doch kurz an; offensichtlich hatte er das mit Kendra noch nicht gehört. Seine braunen Augen werden schmal, vielleicht versucht er gerade zu entscheiden, ob er
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