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Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)

Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)

Titel: Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Young
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so tun sollten, als wäre nichts mit Kendra passiert. Stattdessen atme ich tief durch und mache mein Kreuzchen.
    NEIN .
    Das stimmt nicht – wir alle fühlen uns einsam und hilflos. Manchmal bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob es überhaupt noch andere Gefühle gibt. Aber ich kenne die Routine. Ich weiß, was eine falsche Antwort anrichten kann. Nächste Frage.
    Ich kreuze die restlichen Kästchen korrekt an, nur als ich zum letzten komme, halte ich kurz inne. So wie jeden Tag. Hat jemals irgendjemand, der dir nahesteht, Selbstmord begangen?
    JA.
    Jeden Tag diese Frage bejahen zu müssen, bringt mich fast um. Doch es ist die einzige Frage, auf die ich ehrlich antworten muss. Weil sie die Antwort bereits kennen.
    Nachdem ich unterschrieben habe, nehme ich das Blatt mit zittrigen Fingern und gehe nach vorn zu Mrs. Portmans Pult, stehe auf dem feuchten Boden, wo eben noch die Spuren von Kendras Blut zu sehen waren, und bemühe mich, nicht nach unten zu schauen, während ich darauf warte, dass die Lehrerin die Putzsachen wegstellt.
    »Tut mir leid«, entschuldige ich mich noch einmal, als sie das Blatt entgegennimmt. Mir fällt ein kleiner Blutspritzer auf dem Ärmel ihrer blassrosa Bluse auf, doch ich mache sie nicht darauf aufmerksam.
    Sie überfliegt meine Antworten, dann nickt sie und schiebt das Blatt in die Mappe mit der Anwesenheitsliste.
    Ich gehe eilig zu meinem Platz zurück, lausche auf das angespannte Schweigen. Ich warte darauf, dass die Tür erneut geöffnet wird, dass sich Schritte nähern. Doch nach einer langen Minute räuspert sich meine Lehrerin und kehrt zum Unterrichtsthema zurück. Erleichtert schließe ich die Augen.
    Vor knapp vier Jahren hatte man den Selbstmord von Jugendlichen zur nationalen Epidemie erklärt – von drei Teenagern starb im Schnitt einer. Es hatte solche Selbsttötungen auch schon früher gegeben, doch ganz unvermittelt breitete sich das aus: Leute, die ich kannte, sprangen plötzlich von Gebäuden oder schnitten sich die Pulsadern auf, und bei den meisten wusste man nicht einmal, wieso. Seltsamerweise hatte sich die Selbstmordrate unter Erwachsenen nicht erhöht, was weiter zu diesem Mysterium beitrug.
    Anfangs, als es zu immer mehr Selbsttötungen kam, gab es alle möglichen Gerüchte. Die Spekulationen reichten von schädigenden Impfungen im Kindesalter bis zu Pestiziden in unserer Nahrung – die Leute stürzten sich verzweifelt auf jede Erklärung. Die herrschende Meinung heute besagt, dass ein Übermaß an Antidepressiva die Körperchemie unserer Generation verändert und zu einer erhöhten Anfälligkeit für Depressionen geführt hat.
    Ich jedoch weiß nicht mehr, was ich glauben soll, und echt, ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Aber die Psychologen behaupten, dass Selbstmord ansteckend sei, eine soziale Infektionskrankheit . Gemäß dem alten Spruch: »Wenn alle deine Freunde von einer Brücke sprängen, würdest du es dann nicht auch tun?« Offensichtlich lautet die Antwort Ja.
    Um einen weiteren Anstieg zu bekämpfen, nimmt unser Schuldistrikt an einem Pilotprojekt teil – »Das Programm«, eine neue Philosophie in Sachen Prävention. An allen fünf Schulen werden die Schüler in Bezug auf Veränderungen in Stimmung oder Benehmen überwacht und ausgesondert, sobald man etwas Alarmierendes entdeckt. Leute, die eine Neigung zur Selbsttötung erkennen lassen, werden nicht länger zu Psychologen geschickt. Stattdessen ruft man die Betreuer.
    Und dann kommen sie und holen dich.
    Man wird Kendra Phillips für mindestens sechs Wochen wegsperren – sechs Wochen, die sie in einer Anstalt verbringt, in der »Das Programm« in ihrem Gehirn herumpfuscht, ihr ihre Erinnerungen nimmt. Man wird sie zwingen, Pillen zu schlucken und an Therapien teilzunehmen, bis sie nicht mehr weiß, wer sie ist. Anschließend wird man sie bis zu ihrem Abschluss auf eine kleine Privatschule schicken. Eine Schule nur für Rückkehrer, für all die leeren Seelen.
    Wie Lacey.
    In meiner Tasche vibriert das Handy, und ich stoße den Atem aus, den ich unwillkürlich angehalten habe. Auch ohne nachzuschauen weiß ich, was das bedeutet – James will sich mit mir treffen. Das ist genau der Anstoß, den ich brauche, um den Rest der Stunde zu überstehen. Die Tatsache, dass er auf mich wartet. Die Tatsache, dass er immer auf mich wartet.
    Als wir vierzig Minuten später aus dem Klassenraum strömen, bemerke ich im Flur den dunkelhaarigen Betreuer u nd wie er uns beobachtet. Mich scheint er

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