Dubliner (German Edition)
von Zeit zu Zeit in Versuchung geraten. Wiralle hätten vielleicht, hätten mit Gewissheit unsere Mängel. Nur um eines, sagte er, bitte er seine Zuhörer. Und das sei, dass sie Gott aufrichtig und mannhaft begegneten. Wenn ihre Buchführung Punkt für Punkt stimmig sei, dürften sie sagen:
– Nun, ich habe meine Bücher geprüft und finde alles in Ordnung.
Wenn es aber, was vorkommen könne, einige Unstimmigkeiten gebe, dann sollten sie die Wahrheit eingestehen, offen sein und mannhaft sagen:
– Nun, ich habe mir meine Bücher angesehen. Da stimmt dieses nicht und jenes nicht. Aber mit Gottes Gnade will ich dieses und jenes richtigstellen. Ich will meine Buchführung in Ordnung bringen.
D IE T OTEN
Lily * , die Tochter des Hausmeisters, bekam buchstäblich kein Bein mehr auf den Boden. Kaum hatte sie einen Herrn in die kleine Vorratskammer hinter dem Büro im Erdgeschoss geführt und ihm aus dem Mantel geholfen, da ertönte schon wieder die schnarrende Türglocke, und sie musste durch den kahlen Flur zurückhasten, um den nächsten Gast hereinzulassen. Es war nur ein Glück, dass sie sich nicht auch noch um die Damen kümmern musste. Aber Miss Kate und Miss Julia hatten daran gedacht und das Badezimmer oben in eine Damengarderobe verwandelt. Miss Kate und Miss Julia waren da, plauderten und lachten und machten viel Aufhebens, liefen hintereinander zum oberen Treppenabsatz hinauf, spähten über das Geländer nach unten und riefen Lily zu, wer denn angekommen sei.
Es war jedes Mal ein großes Ereignis, der alljährliche Ball der Misses Morkan. Alle, die sie kannten, waren dabei: Familienangehörige, alte Freunde der Familie, die Mitglieder aus Julias Chor, Kates Schüler, soweit sie alt genug waren, und sogar einige von Mary Janes Schülerinnen. Nicht ein einziges Mal war der Ball ausgefallen. Seit vielen, vielen Jahren, solange sich irgendwer erinnern konnte, fand er in glanzvollem Stil statt; seit damals, als Kate und Julia nach dem Tod ihres Bruders Pat aus dem Haus in Stoney Batter ausgezogen waren und Mary Jane, ihre einzige Nichte, bei sich in dem dunklen, hageren Haus am Usher’s Island aufgenommen hatten, dessen oberen Teil sie von Mr Fulham,dem Getreidehändler im Erdgeschoss, mieteten. Das war gut und gerne dreißig Jahre her. Mary Jane war damals ein kleines Mädchen in kurzen Kleidchen, aber inzwischen war sie die Stütze des Haushalts, denn sie war die Organistin in der Haddington Road. Sie war auf der Musikakademie gewesen, und jedes Jahr fand im oberen Saal der Antient Concert Rooms * ein Konzert ihrer Schülerinnen statt. Viele ihrer Schülerinnen gehörten zu den besseren Familien entlang der Bahnlinie nach Kingstown und Dalkey * . Trotz ihres Alters trugen ihre Tanten auch ihren Teil bei. Julia war zwar schon ganz grau, aber sie war immer noch die erste Sopranistin in Adam and Eve’s * , und Kate, die zu schwach war, um das Haus oft zu verlassen, gab auf dem alten Tafelklavier im Hinterzimmer Musikstunden für Anfänger. Lily, die Tochter des Hausmeisters, arbeitete bei ihnen als Hausmädchen. Ihr Lebensstil war zwar bescheiden, aber sie aßen gerne gut; von allem das Beste: Steaks aus der Hochrippe, Tee zu drei Shilling und das beste Stout in Flaschen. Und Lily machte selten Fehler bei den Einkäufen, darum kam sie mit ihren drei Damen gut zurecht. Sie machten viel Aufhebens, das war alles. Nur eines konnten sie nicht ausstehen: Wenn man ihnen Widerworte gab.
Natürlich hatten sie an so einem Abend allen Grund, viel Aufhebens zu machen. Und dann war es schon weit nach zehn Uhr, und immer noch gab es von Gabriel * und seiner Frau kein Zeichen. Außerdem hatten sie größte Sorge, dass Freddy Malins beschwipst auftauchen könnte. Sie wollten um nichts auf der Welt, dass Mary Janes Schülerinnen ihn in diesem Zustand erlebten; und wenn er einen sitzen hatte, war er manchmal nur schwer zu bändigen. Freddy Malins kam ja immer zu spät, aber sie konnten sich nicht erklären, was Gabriel wohl aufhalten mochte: Und deshalb liefen sie alle zwei Minuten ans Geländer, um Lily zu fragen, ob Gabriel oder Freddy schon gekommen seien.
– Oh, Mr Conroy!, sagte Lily zu Gabriel, als sie ihm die Tür öffnete, Miss Kate und Miss Julia dachten schon, Sie würden nie kommen. Guten Abend, Mrs Conroy.
– Das kann ich mir denken, sagte Gabriel, aber sie vergessen, dass meine liebe Frau drei endlose Stunden * braucht, um sich anzukleiden.
Er stand auf der Fußmatte und streifte den Schnee von seinen
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