Duddits - Dreamcatcher
schon so lange, dass sie es gar nicht mehr mitbekam, wenn sie sie einsetzte … wie Henrys Freund Biber ewig an seinen Zahnstochern genagt hatte. Bei ihr war die Gabe nicht so stark wie bei Henry, aber sie war nichtsdestotrotz vorhanden, und Owen war nie im Leben so froh gewesen, dass er gerade die Wahrheit gesagt hatte.
»Das war aber keine Leukämie«, sagte sie.
»Es war Lungenkrebs. Mrs. Cavell, wir müssen jetzt wirklich …«
»Ich muss ihm noch etwas holen.«
»Roberta, wir können wirklich …«, setzte Henry an.
»Bin gleich wieder da.« Sie eilte in die Küche.
Owen bekam zum ersten Mal richtige Angst. »Kurtz und Freddy und Perlmutter – Henry, ich weiß nicht mehr, wo sie sind! Ich habe sie verloren!«
Henry hatte die Papiertüte geöffnet und schaute hinein. Dann starrte er wie gebannt das an, was dort auf der Schachtel Glycerintupfer mit Zitronengeschmack lag. Er antwortete Owen, aber seine Stimme schien vom anderen Ende eines bisher unentdeckten, ja, ungeahnten Tals zu kommen. Es gab so ein Tal, das wusste er jetzt. Ein Tal der Jahre. Er hätte nicht behaupten wollen oder können, dass er nie vermutet hatte, dass es so etwas gab, aber wie um Gottes willen hatte er davon so wenig ahnen können?
»Sie sind gerade an der Ausfahrt 29 vorbeigefahren«, sagte er. »Sie sind zwanzig Meilen hinter uns, vielleicht sogar näher.«
»Was ist denn mit dir?«
Henry langte in die braune Papiertüte und holte das kleine Fadengeflecht hervor, das einem Spinnennetz ähnlich sah und über Duddits’ Bett gehangen hatte und früher, vor Alfies Tod, auch über seinem Bett in ihrem Haus in der Maple Lane.
»Wo hast du den her, Duddits?«, fragte er, wusste es aber natürlich schon. Dieser Traumfänger war kleiner als der, der im Hauptraum ihrer Hütte gehangen hatte, sah sonst aber genauso aus.
»Iehr«, sagte Duddits. Er hatte Henry die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Als ob er es immer noch nicht so ganz glauben konnte, dass Henry da war. »At Iehr mi eschitt. Uh mein Einachn etze Oche.«
Obwohl seine Gedankenlese-Fähigkeiten rapide schwanden, während sein Körper die Byrus-Infektion abwehrte, verstand Owen das auf Anhieb: Hat Biber mir geschickt, hatte Duddits gesagt, zu meinem Weihnachten letzte Woche. Menschen mit Downsyndrom hatten Schwierigkeiten, zeitliche Zusammenhänge auszudrücken, die sich in die Vergangenheit oder die Zukunft erstreckten, und Owen vermutete, dass für Duddits die Vergangenheit immer letzte Woche und die Zukunft immer nächste Woche war. Owen fand, wenn alle so dächten, gäbe es viel weniger Kummer und Verbitterung auf der Welt.
Henry betrachtete den kleinen Traumfänger noch für einen Moment und legte ihn dann wieder in die Papiertüte, als Roberta wiederkam. Duddits strahlte über beide Wangen, als er sah, was sie ihm mitgebracht hatte. »Uuhbih-duuh!«, rief er. »Uuhbih-duuh Anschocks!« Er nahm die Lunchbox und küsste Roberta auf die Wangen.
»Owen«, sagte Henry mit strahlendem Blick. »Ich habe äußerst gute Neuigkeiten.«
»Schieß los.«
»Die Schweine müssen einen Umweg machen – kurz vor Ausfahrt 28 liegt ein Sattelzug quer auf dem Highway. Das wirft sie zehn, vielleicht sogar zwanzig Minuten zurück.«
»Gott sei Dank. Das müssen wir ausnutzen.« Er sah zu dem Kleiderständer in der Ecke hinüber, an dem ein großer blauer Parka hing, mit dem knallroten Aufdruck RED SOX WINTER BALL hintendrauf. »Ist das deiner, Duddits?«
»Eine!«, sagte Duddits und nickte lächelnd. »Eine Acke!« Und als Owen danach griff: »Du as sehen wie wir Osie fun’n ham.« Auch das verstand Owen, und es jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Du hast gesehen, wie wir Josie gefunden haben.
Ja, das hatte er … und Duddits hatte ihn dabei gesehen. Heute Nacht erst, oder hatte Duddits ihn auch an jenem Tag vor zwanzig Jahren gesehen? Konnte Duddits mit seiner Gabe auch so eine Art Zeitreise unternehmen?
Es war nicht der richtige Zeitpunkt für solche Fragen, und darüber war Owen fast froh.
»Ich hatte zwar gesagt, dass ich ihm seine Lunchbox nicht packe, aber jetzt habe ich es natürlich doch gemacht.«
Roberta sah sie an – sah Duddits an, der sie erst mit der einen und dann mit der anderen Hand hielt, während er seinen riesigen Parka anzog, der auch ein Geschenk der Boston Red Sox war. Sein Gesicht hob sich unglaublich fahl von dem leuchtenden Blau der Jacke und dem hellen Gelb der Schachtel ab. »Ich habe gewusst, dass er fortgeht. Und dass ich hier
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