Duell der Leidenschaft
Gegner dort zu treffen, wo er die schlimmsten Schmerzen erleiden musste? Oder handelte es sich um ein fast urzeitliches Bestreben, den anderen daran zu hindern, dass dessen Stamm Zuwachs bekam?
Kerr wusste keine Antwort darauf. Für ihn war nur klar, dass er eine Besessenheit für Jean Pierre Rouillards Verlobte zu entwickeln begann.
In der Nacht zuvor hatte Sonia vor ihm Angst gehabt. Es war zwar nur vorübergehend gewesen, doch es genügte, um zu sehen, wie sie ihn mit einem Blick musterte und zu dem Schluss kam, dass sie gegen ihn keine Chance hatte. Ihm war nicht ihr Entsetzen entgangen, als sie glaubte, er würde den Seemann, der sie belästigt hatte, verstümmeln oder gar töten.
Ihm hatte das kein Vergnügen bereitet. Vielmehr fühlte er sich gedemütigt, denn dieser angsterfüllte Ausdruck brandmarkte ihn, als sei er nichts weiter als ein linkischer Schläger. Er verdiente diesen Blick, das wusste er nur zu gut, denn er hatte ganz bewusst seine Statur und seine Kraft ins Spiel gebracht, um sie einzuschüchtern. Das würde sich nicht wiederholen, sofern es in seiner Macht stand, das zu verhindern.
Ebenso würde er sie nicht mehr berühren. Sie verdiente es nicht, wie eine Schachfigur im Spiel zwischen ihm und Rouillard behandelt zu werden — obwohl sie das längst war, und obwohl sie das bereits in dem Moment gewesen war, als er von ihrer Existenz erfuhr.
Sie sollte dafür nicht leiden, zumindest nicht mehr als absolut notwendig. Das schwor er sich. So wie die Mitglieder der Bruderschaft würde er bis zu seinem letzten Atemzug kämpfen, um für Sonias Sicherheit zu sorgen.
Es waren hehre Absichten, dachte er mit stummem Spott. Aber er rückte nicht von ihnen ab, während er sich gestattete, die Augen zu schließen
Neuntes Kapitel
Es mochte eine Stunde vergangen sein, aber es kam Kerr wie wenige Minuten vor, als ein lautes Geräusch ihn aus dem Schlaf riss. Sein Nacken war steif, und ein Arm hing über die Lehne, sodass seine Knöchel das Deck berührten. Viel wichtiger war aber die Tatsache, dass Sonia nicht mehr auf ihrem Deckstuhl saß.
Sofort setzte er sich aufrecht hin und sah sich um. Dann hatte er sie aber auch schon entdeckt: Sie war nur ein paar Schritte entfernt und schlenderte über Deck, hatte sich bei Alexander Tremont untergehakt. Um sich herum schien sie nichts wahrzunehmen, ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den Gentleman an ihrer Seite gerichtet, mit dem sie sich angeregt unterhielt und ihn anlächelte, als hätte sie keine Sorgen. Hinter ihr auf den Planken und damit keine zwei Schritte weit von Kerrs Deckstuhl entfernt, lag ein Fächer aus bemalter Seide und mit Stäbchen aus Elfenbein.
Das Geräusch des zu Boden fallenden Fächers hatte Kerr aufgeweckt. Er stand von seinem Stuhl auf, streckte sich und bückte sich, um das feminine Accessoire aufzuheben. Dann näherte er sich mit ausholenden Schritten dem Paar und räusperte sich.
»Verzeihen Sie, Mademoiselle.«
Sie blieb stehen und machte eine ahnungslose Miene, als sie sich zu ihm umdrehte. »Monsieur?«
»Ich glaube, Sie haben das hier verloren.«
»O ja.« Sie nahm den Fächer entgegen und öffnete ihn, um ihn auf Schäden zu untersuchen, dann warf sie Kerr ei-nen Blick zu und fügte hinzu: »Wie freundlich von Ihnen, ihn mir wiederzubringen. Es tut mir leid, wenn meine Unachtsamkeit Sie geweckt haben sollte.«
Es tat ihr nicht im Mindesten leid. Vielmehr hatte sie das Objekt aus Seide und Elfenbein absichtlich fallen lassen. Ihm kam es vor, als habe sie ihm so etwas wie einen Fehdehandschuh vor die Füße geworfen und ihm den Krieg erklärt. Allerdings würde er ihr nicht die Genugtuung geben, sie wissen zu lassen, dass er verstanden hatte.
»Aber mitnichten«, antwortete er und grüßte gleichzeitig Tremont mit einem knappen Nicken. »Ich hatte nur ein wenig die frische Luft genossen.«
»So wie wir alle, auch wenn ich sagen muss, dass diese Fahrt hinunter zum Golf eine ermüdende Angelegenheit ist. Finden Sie nicht auch?«
Kerr betrachtete den Fluss, der sich vor ihnen wie ein funkelnder silberner Streifen durch die Landschaft zog. Große blauweiße Reiher wateten im seichten Wasser und sorgten dafür, dass sich kleine Wellen auf der Oberfläche ausbreiteten, während Schwärme von Elritzen vor ihnen die Flucht antraten. Silberreiher schmückten die mit Moos überwucherten Bäume wie große weiße Blüten. Ein Waschbär suchte das Weite, als er das herannahende Schiff bemerkte, und ein Alligator oder eine Schlange
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