Duell im Eis
nicht? dachte sie. Sie müssen uns doch längst suchen! Sie müssen doch gemerkt haben, daß etwas passiert ist. Wir hätten schon seit zwei Stunden wieder auf dem Flugplatz sein müssen. Ric, warum kommst du nicht? Ein Russe ist auf dem Eisberg! Ein Russe! Er kann nicht allein hier sein! Wie kommt er auf den Berg? Ric … Jetzt kommt er auf mich zu … Wo bleibst du denn, Ric, wo bleibst du?
Malenkow sah Virginia ernst an, obwohl ihn ihre Schönheit, von der er nur das Gesicht und die Haare sah, milde stimmen konnte. Aber jetzt war er der sowjetische Offizier, der Kapitän Malenkow, der neue Held der Sowjetunion, der Kommandant des Atom-U-Bootes ›Gorki‹, und vor ihm lag ein zerschellter amerikanischer Militärhubschrauber, der nicht hierher gehörte und der nur eine kurze Strecke fliegen konnte. Von wo war er aufgestiegen? Wer hatte ihn über den Eisberg geschickt? Er machte eine weite Handbewegung und sagte unnötig: »Kaputt! Ty … Soldat?«
»Nein.«
Das ›No‹ verstand er, lächelte Virginia mokant an, zeigte auf den Stern an der abgesprengten Verkleidung und schüttelte den Kopf. Dann machte er eine Handbewegung, die Mitkommen bedeutete.
Virginia nickte und zeigte in Richtung des Eisfeldes, also auf ›Big Johnny‹ zu, aber Malenkow wedelte mit beiden Händen und zeigte dann auf die Eiswand.
»Nein!« sagte Virginia wieder. »Dahin!«
»Njet! Dawai!«
Er faßte sie an den Ärmel des Pelzmantels, aber sie schüttelte seinen Griff mit einem energischen Ruck ab. Ihre Hand mit dem Revolver zuckte. Ich kann doch nicht schießen, dachte sie verzweifelt. Ich kann ihn doch nicht einfach erschießen, weil er ein Russe ist! Er will mir helfen, aber er weiß auch, daß es ein Hubschrauber der Air Force war. Aber wer ist er? Wo lebt er in diesem Eis? Womit ernährt er sich? Ein Mensch allein kann hier doch nicht bestehen!
Bevor sie reagieren konnte, hatte Malenkow ihr den Revolver aus der Hand gewunden und ihn in seinen Pelz versenkt. »Miß –«, sagte er dabei. Es war eines der wenigen Worte, die er vom Fernsehen kannte. »Prichoditj!« (»Mitkommen!«) Und dann fügte er, auch auf russisch, hinzu: »Einsehen müssen Sie, daß Sie nicht mehr zurück können.«
Sie nickte, weil sie ahnte, was er gesagt hatte, betrachtete ihre leere Hand und überlegte, wie sie Henderson eine Nachricht hinterlassen konnte, wenn er die Trümmer des Hubschraubers finden sollte. Sie zeigte auf den toten Mulder, faltete die Hände, und Malenkow, obwohl ohne Religiosität erzogen, verstand sie trotzdem und nickte.
Es war ein kurzes Abschiednehmen. Virginia kniete neben dem Toten nieder und blickte auf seinen blutverkrusteten Kopf. »Ich bin schuld, Benny, ich ganz allein«, sagte sie noch einmal. »Ich werde das nie vergessen.«
Während sie Mulder die Pelzkappe über das Gesicht zog, sah sie in der zerfetzten Glaskanzel eine leere Coladose liegen. Mulder mußte sie vor dem Start getrunken haben – auch in der Antarktis ist ein Amerikaner ohne Cola undenkbar. Schnell steckte sie die Coladose in ihren Pelz, zögerte in innerer Abwehr einem Toten gegenüber, griff aber dann doch unter Mulders Pelz, fand in der Daunenjacke einen Kugelschreiber und das Doppel der Übergabebescheinigung für den Hubschrauber. Sie schob alles zu der Coladose in ihren Pelzmantel und wandte dann den Kopf zu Malenkow.
Er hatte nichts gesehen, stand etwas abseits, anscheinend um das Gebet nicht zu stören, und winkte jetzt, als sie sich aufrichtete. »Miß«, rief er, »dawai!«
»Ich komme.«
Noch einmal lauschte sie angespannt in die Stille hinein, aber kein Motorengeräusch war zu hören. Tief drückte sie ihre Fellkappe über den Kopf, schob den Mundschutz bis zu den Augen und tappte hinüber zu Malenkow.
Er nickte zufrieden, zeigte auf die zerklüftete, zackenkronige Eiswand und setzte sich in Bewegung.
Virginia folgte ihm. Er rettet mich, dachte sie. Wohin er mich auch bringt, er rettet mich. Ein Russe auf dem Eisberg, was soll man davon halten?
Als sie jenseits der Eismauer den Motorschlitten erreichten, wußte Virginia plötzlich, daß er nicht allein war. Wo ein Motorschlitten ist, muß auch Benzin sein, und Treibstoff kommt nicht von allein auf einen Eisberg, da mußte es ein Lager geben, und in dem Lager andere Russen, und niemand wußte davon, ahnungslos baute Washington die neue Laserforschungsstation auf, das größte Geheimnis der USA, das einmal jede Atombombe veralten ließ und überflüssig machte. Der lautlose, gebündelte
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