Duell: Island Krimi (German Edition)
glaube, er schwebt in großer Gefahr.«
Spasskis Augen waren unverwandt auf das Schachbrett gerichtet. Fischer ihm gegenüber saß vornübergebeugt vor dem Brett. Nichts störte die beiden in ihrer Konzentration, und den Gesichtern der Zuschauer nach zu urteilen, näherte sich die Spannung dem Höhepunkt. Fischer nippte an einem Glas mit Orangensaft. Der Oberschiedsrichter hatte schon mehrmals um Ruhe im Saal bitten müssen. Sobald ihm von irgendwoher auch nur das leiseste Flüstern zu Ohren kam, drückte er auf einen Knopf, und die Leuchtschrift SILENCE und ÞÖGN erschien. Albert schob sich an den Reihen vorbei wieder zurück zu Marian am Eingang zum Zuschauerraum.
»Ich glaube, unser Juri sitzt in der ersten Reihe beim sowjetischen Botschafter«, flüsterte er.
»Und Viðar?«
»Den habe ich nicht gesehen.«
»Such weiter, aber unternimm nichts, wenn du ihn siehst. Halte dich selber so bedeckt wie möglich. Ich werde Vygocki im Auge behalten, über ihn finden wir womöglich Viðar.«
»Hat er wirklich eine Aktion hier in der Halle geplant?«
»Das hat Bríet gesagt.«
»Und wie soll ich einen Russen von einem Amerikaner unterscheiden?«
»Albert, sieh dich um Himmels willen vor«, sagte Marian. »Wir wissen nicht, was hier gespielt wird. Schnapp dir sicherheitshalber ein paar von unseren Leuten, die hier Wache schieben. Es ist äußerste Vorsicht geboten.«
Bríet hatte ihre Wohnung im Þingholt-Viertel zu einem warmen und anheimelnden Zuhause gemacht. Marian spürte sofort, dass sie allein lebte, alle Anzeichen sprachen dafür. Neben dem Waschbecken in der Küche stand eine ausgespülte einzelne Tasse, und ein umgedrehter Teller lag auf dem Ablauf. Da in dem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer niemals Kinder gekreischt und herumgetobt hatten, war dort niemals etwas in Unordnung geraten. Die schweren Vorhänge schlossen die Welt draußen vor den Fenstern aus.
»Ich habe einige Informationen über dich und Viðar eingeholt«, sagte Marian und nahm auf dem weichen Sofa Platz. »Ich hoffe, dass ich nicht zu viel Neugier an den Tag gelegt habe. Ihr lebt nicht zusammen, habt aber trotzdem eine Beziehung?«
»Viðar hat mir von dir erzählt«, entgegnete Bríet. »Er war der Meinung, dass du fair sein würdest. Er mag dich im Grunde genommen. Und ich zweifle nicht daran, dass er damit recht hat.«
»Sag mir also, was da gespielt wird.«
Bríet setzte sich in einen Sessel. Sie ging auf die siebzig zu, und ihre Bewegungen waren langsam. Sie hatte Falten um die Augen und den Mund, die mit dem Alter tiefer geworden waren, und ihr Gesichtsausdruck war zugleich freundlich und ernst. Marian hatte das Gefühl, dass sie nur selten lächelte. Bríet warf einen Blick auf die Wanduhr, ein Familienerbstück, deren Pendel leise tickend wie ein schwacher Herzschlag hin und her schwang.
»Hatte Viðar vor, später noch einmal vorbeizuschauen?«, fragte Marian.
»Ja«, antwortete Bríet, die den Blick immer noch auf die Wanduhr richtete. »Wenn das Ganze vorbei ist.«
»Welches Ganze?«
Bríet sah Marian an.
»Es ist noch zu früh, um dir das zu sagen«, erwiderte sie. »Das darf ich nicht.«
Marian warf ebenfalls einen Blick auf die Uhr.
»Ich höre von verschiedenen Seiten, dass es um Politik geht. Es geht um Schach, das Weltmeisterschaftsduell und um weltpolitische Ereignisse, die auf Island stattfinden. Es geht um den Kabeljaukrieg, die Russen, die Amerikaner, es geht um den Kalten Krieg. Das Ganze dreht sich um etwas ganz anderes als den Tod eines jungen Menschen. Niemand denkt an ihn, und das finde ich schlimm. Findest du es nicht auch seltsam? Was gehen mich der Kalte Krieg und die Großmächte an, oder die Schachweltmeisterschaft. Ich verfolge nur ein Ziel, nämlich herauszufinden, warum Ragnar sterben musste. Sonst nichts. Sag mir bitte nicht, dass du denkst wie all die anderen.«
»Ich muss jeden Tag an den Jungen denken. Er … Das war …«
Bríet konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
»Meinst du damit, dass jetzt etwas stattfinden wird?«, sagte Marian. »In der Halle?«
Bríet schwieg.
»Euer Versteckspiel hat bereits ein Menschenleben gekostet«, sagte Marian mit anklagendem Unterton. »Findest du nicht, dass es reicht?«
»Glaubst du wirklich, dass du Viðar helfen kannst?«, fragte Bríet.
»Ja«, sagte Marian.
»Ich weiß nicht, was …«
Bríet seufzte leise.
Fischer nahm sich viel Bedenkzeit. Er warf einen Blick auf die Schachuhr. Er stand allerdings nicht so unter Zeitdruck wie
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