Duell: Island Krimi (German Edition)
entsprechend gesunder Kost, Entspannung, viel Zeit zum Spielen und Sport und dazwischen handwerkliche Arbeit trugen dazu bei, die Aufmerksamkeit von der ständigen Bedrohung durch die Krankheit abzulenken. Marians Lungenflügel musste in regelmäßigen Abständen durch Einblasen von Luft zum Kollabieren gebracht und geröntgt werden, nichts von dem war unangenehm. Viel schlimmer für Marian waren die drei Besuche beim Zahnarzt im obersten Stockwerk, der an drei Zähnen Karies fand und seinen jaulenden Bohrer erbarmungslos einsetzte. Das Sanatorium mit seinen vielen Etagen und seinen langen, geheimnisvollen Korridoren und winkligen Gängen war ein spannender Spielplatz. Ganz oben unter dem Dach gab es dicke Balken, die an die Spanten eines Schiffswracks erinnerten.
Es kam nicht häufig vor, dass sich zwei isländische Kinder gleichzeitig im Sanatorium aufhielten. Die dänischen Kinder legten ihnen gegenüber aber keine Scheu an den Tag, sie stellten alle möglichen neugierigen Fragen, die allerdings nicht gerade von genauen Kenntnissen über Island zeugten. Marian beantwortete die Fragen über Eskimos und Iglus sehr geduldig und erwähnte dann auch, dass Eisbären tatsächlich hin und wieder in Island an Land gingen. Sie würden auf treibenden Eisbergen von Grönland in den Süden verschlagen, von wo auch sie dann das letzte Stück bis an Land schwimmen würden. In Island würden sie sofort abgeschossen. Irgendjemand hatte etwas von dem berüchtigten Vulkan Hekla gehört und wollte wissen, ob man von dort aus geradewegs in die Hölle käme. Ein anderes Kind erkundigte sich nach dem Snæfellsjökull, und ob man von da aus tatsächlich bis zum Mittelpunkt der Erde gelangen könnte. Und noch ein anderes Kind hatte gehört, dass der Weihnachtsmann angeblich auf Island zuhause sei. Auf diese Frage antwortete Marian, dass es in Island mindestens dreizehn Weihnachtsmänner gäbe, deren Eltern Grýla und Leppalúði hießen, sie würden den Menschen keine Geschenke bringen, sondern unartige Kinder verschleppen. Ob die Winter in Island lang und dunkel wären? Ob die Sonne im Sommer nie unterginge? Und wie es war, wenn man mitten in der Nacht bei Sonnenschein einschlafen müsste? Die dänischen Kinder fragten auch danach, ob die Tuberkulose in Island verbreitet war, worauf Marian erwiderte, dass sie eine Landplage wäre. Gehört Island nicht uns, fragte ein großer Junge aus Jütland. Er hieß Casper und gab gerne an. Nein, hatte Marian geantwortet, wir haben nur denselben König.
Früh an einem Morgen nach der Arztvisite besuchte Marian die Freundin, um mit ihr hinunter zum Fjord zu gehen. Katrín ruhte in der großen Liegehalle unter den Kolonnaden vor dem Sanatorium. Es war warm, und die Sonnenstrahlen glitzerten in der Morgensonne auf dem Wasser. Es war nicht weit bis zu einem kleinen Kai am Fjord. Auf dem Anlegesteg des Sanatoriums nahm das Küchenpersonal frisch gefangenen Fisch entgegen. »Was liest du denn da?«, fragte Marian und setzte sich neben Katrín auf eine der Liegen. Katrín hielt ein paar maschinengeschriebene Seiten in der Hand, legte sie aber weg, als Marian zu ihr kam.
»Sie wollen, dass ich das Rotkäppchen spiele«, sagte sie. »Wahrscheinlich, weil ich diese schrecklichen roten Haare habe. Ich würde das auch gerne tun, aber ich traue mich einfach nicht.«
»Das schaffst du ganz bestimmt«, sagte Marian ermutigend. »So viel brauchst du doch nicht auswendig zu lernen?«
Für die Kinder gab es abends immer etwas zur Unterhaltung, Gesellschaftsspiele, kurze Theaterstücke für Kinder, die zum größten Teil von den Kindern selber mit einfachen Requisiten und Kostümen spannend inszeniert wurden – so auch Rotkäppchen und der Wolf. Einer der Ärzte im Sanatorium hatte das Märchen vor einigen Jahren zu einem Theaterstück umgeschrieben, es war immer noch sehr beliebt. Der grobschlächtige Casper war wie geschaffen für die Rolle des Wolfs, und ein Mädchen aus Odense war für die Großmutter vorgesehen. Der Jäger war ein Junge aus England, der etwa gleichaltrig wie Marian war, aber kein Wort Dänisch verstand. Rotkäppchen war im Sanatorium Koldingfjord schon häufig aufgeführt worden, die Kinder liebten das Märchen besonders deswegen, weil die Handlung in gewisser Weise die Lebensumstände der Kinder spiegelte – der Wolf war das Böse, und das Böse war die Krankheit, die in ihnen war. Und der Wolf wurde zum Schluss überwunden.
»Nein«, sagte Katrín, »ich hab so was noch nie gemacht.
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