Duell: Island Krimi (German Edition)
bekannte Stimme, die Marian lange nicht gehört hatte.
»Wir können losfahren«, erklärte der Mann ohne jegliche Einleitung, und wie immer klang er autoritär.
»Losfahren? Wohin denn?«
»Raus zu den Seehasennetzen natürlich!«
»Hat das nicht vielleicht Zeit bis zum Morgen?«, fragte Marian, ohne eine Ahnung zu haben, worüber der Mann redete, aber das war so gesehen nichts Neues.
»Bis zum Morgen? Wann ist denn bei dir Morgen? Die Sonne scheint! Der Kaffee in der Thermosflasche steht bereit. Was willst du mehr?«
»Was?«
»Seehasen aus den Netzen holen, was denn sonst! Hast du das vergessen?«
»Seehasen?«
»Ich steche in zwanzig Minuten in See, Marian. Lass mich nicht warten.«
Der Mann legte auf. Marian erhob sich und schaute auf die Uhr. Draußen war es taghell, auch wenn die Uhr bewies, dass es noch Nacht war. Das seltsame Gespräch hallte noch in Marians Ohren wider. Der Anrufer hieß Josef, er hatte früher bei der Kriminalpolizei gearbeitet, war aber jetzt pensioniert. Er hatte eine Zeit lang Jura in Schottland studiert und sich auf Strafrecht spezialisiert, dadurch war sein Interesse an der Arbeit der Kriminalpolizei erwacht. Neben dem Studium hatte er bei der Polizei in Glasgow gearbeitet, und das führte dazu, dass er das Jurastudium an den Nagel hängte und nach Island zurückkehrte, wo er sofort eine Stelle bei der Staatsanwaltschaft bekam.
Marian hatte niemals den Wunsch geäußert, mit Josef auf Seehasenfang zu gehen. Irgendetwas musste er damit bezwecken. Sie hatten sich immer gut verstanden, denn Josef war ein hervorragender Kriminalbeamter gewesen, der bei seinen Ermittlungen stets ungewöhnliche Wege beschritt, am liebsten im Alleingang. Gerade bei schwierigen Fällen hatte er oft sehr viel Einfallsreichtum gezeigt, und wenn dieser Mann mitten in der Nacht anrief und Marian zum Seehasenfang einlud, war es bestimmt angeraten, der Einladung zu folgen. Josef hatte noch nie etwas Unüberlegtes getan.
Josefs Bruder gehörte zu den Fischern, die ihren Unterhalt hauptsächlich vom Seehasenfang bestritten. Sein Boot lag auf dem breiten Uferstreifen vor den Nobelwohnungen an der Ægisíða. Josef fuhr seit seiner Pensionierung regelmäßig mit seinem Bruder zum Fischfang. Das hatte er auch schon getan, als er noch bei der Kriminalpolizei war, weil seiner Meinung nach nichts das Gehirn so gut durchlüftete wie eine frische Brise auf See.
Am Ufer befanden sich einige Schuppen, in denen Fanggeräte, Netze, Ölzeug und anderes aufbewahrt wurden. Und dort wurden auch die Fische zum Trocknen aufgehängt. Josef war dabei, das Boot auf die Slipanlage zu ziehen, als Marian eintraf. Er trug einen Islandpullover, und auf dem Kopf thronte eine dreckige Schiffermütze. Er blickte missbilligend drein, da Marian Bürokleidung trug.
»Was soll das denn«, sagte er. »Ich hab dir doch gesagt, dass wir auf Seehasenfang gehen.«
»Ich kann mich nicht erinnern, jemals den Wunsch geäußert zu haben, mit dir die Netze zu kontrollieren«, erklärte Marian so höflich wie möglich. »Was willst du von mir. Wir sind nie zusammen zum Fischen gewesen. Wann sollen wir darüber geredet haben, gemeinsam zu den Netzen rauszufahren?«
»Tu es bitte für mich, Marian. Wahrscheinlich denkst du, ich sei komplett übergeschnappt, aber das muss ja nicht unbedingt stimmen. Ich muss dir etwas sagen, was im Zusammenhang mit deiner Ermittlung steht.«
»Mit dem Fall im Hafnarbíó?«
»Ja.«
»Konntest du mir das nicht am Telefon sagen?«
»Nein.«
»Oder zu mir ins Büro kommen?«
»Nein.«
Marian sah Josef lange an. Er war über einen Meter neunzig groß und sah immer noch gut aus, auch wenn er abgenommen hatte und gealtert war. Möglicherweise lag es daran, dass er pensioniert war, aber in seiner Seemannskluft wirkte er rüstig und fit, und er war geistig wie körperlich immer noch reaktionsschnell und auf Draht. Genau wie früher hielt er sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf. Marian dachte, dass ein so dynamischer Mann wie Josef eigentlich nicht dazu hätte gezwungen sein dürfen, in Pension zu gehen.
»Hol dir Ölzeug aus dem Schuppen und hilf mir, das Boot zu Wasser zu lassen«, sagte Josef und deutete auf einen der in Ufernähe stehenden Holzschuppen. Nach kurzem Zögern tat Marian, was er wollte. In dieser Stimmung war nicht daran zu denken, Josef zu widersprechen. Sie ließen das Boot auf der Slipanlage mit einer Seilwinde zu Wasser, und Josef sprang an Bord, als das Boot klatschend aufschwamm. Er
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