Dünengrab
worden, hätten die Banken und weitere Partner sofort kalte Füße bekommen.«
Tjark nickte, während Mommsen weiterredete: »Da unser Einzugsgebiet die gesamte Küste nebst Inseln umfasst, rechnen wir realistisch mit bis zu einer Million Besucher pro Jahr und einem Plus von dreihunderttausend Übernachtungen in Werlesiel sowie einer Vervierfachung der Umsätze aus der Gastro- und Tourismusbranche, was ein erhebliches Plus an Gewerbesteuereinnahmen mit sich bringen wird. Ganz Werlesiel wird vom Aquapalace profitieren, und ich denke, das wird der Gemeinderat ebenfalls so sehen, wenn ich ihm in Kürze den Bebauungsantrag einreiche.«
»Das hat der doch schon längst klargemacht«, kommentierte Fred. »Aber welche Rolle könnte Vikki spielen?«
»Sie hat vielleicht mitbekommen, wie Mommsen den Claim abgesteckt hat. Möglicherweise hat sie zu viel gehört …«
»Und zwar?«
Tjark wischte sich übers Gesicht. »Vielleicht stammt die Finanzierung aus fragwürdiger Quelle. Vielleicht hat er die Politiker geschmiert. Vielleicht hat Vikki gesagt, sie will Geld dafür, dass sie es nicht rumerzählt.«
»Und die anderen Nutten vor ihr?«
Tjark zog die Augenbrauen hoch. Die anderen waren in der Tat das Problem. Es war unwahrscheinlich, dass sie aus demselben Grund aus dem Weg geräumt worden waren – zudem auf so markante Art und Weise. Nein, bei den Morden ging es um etwas anderes. Ein Kind, dachte Tjark. Ein Kind.
Mommsen sprach weiter: »Bereits im Vorfeld haben wir uns um eine Verträglichkeit des Projekts mit der wunderbaren Natur und der empfindlichen Fauna befasst und legen größten Wert auf die Übererfüllung ökologischer Standards und größtmögliche Energieeffizienz: Plan ist es, den Aquapalace direkt mit Energie aus dem vor Borkum entstehenden Offshore-Windpark zu speisen. Gerade heute habe ich erfahren, dass wir mit einer Projektförderung von relf Millionen Euro rechnen können, mit denen das Land Niedersachsen strukturschwache Regionen stärken möchte.«
Erneuter Szenenapplaus. Dann machte Mommsen ein Victory-Zeichen mit den Fingern und trat hinter dem Rednerpult hervor, um sich beglückwünschen zu lassen.
»Puh.« Tjark schlug den Kragen seiner Jacke hoch und stellte die Standheizung ein.
»Also ist nicht nur mir so kalt«, sagte Fred.
»Nein«, meinte Tjark. Die Außentemperaturanzeige zeigte nur noch sechs Grad an. Vorhin waren es noch zwölf Grad mehr gewesen.
»Wie kommt denn das auf einmal?«
Tjark blickte nach draußen. Die Straßenbeleuchtung war eben noch zu sehen gewesen. Jetzt war sie nur zu erahnen. Der Laptop auf Freds Schoß zeigte eine graue Brühe an.
»Sieht aus, als würde Nebel aufziehen«, sagte Tjark und wunderte sich, wie plötzlich das gegangen war. Wie von Geisterhand.
69
Helle Schwaden huschten wie Gespenster über das schwarze Band der Küstenstraße. Sie waren die Vorboten der Nebelwand, die der Wind in der aufziehenden Dunkelheit auf den Uferstreifen zuschob – ein lautloser Tsunami aus Wassertropfen, der sehr bald alles verschlucken und jedes Geräusch ersticken würde. Darüber funkelten vereinzelt Sterne im ansonsten klaren Himmel. Einzig das Aufheulen eines hochtourig betriebenen Motors störte die Stille. Ein blau-silberner Funkstreifenwagen vom Typ VW Passat trieb wie eine rastlose Seele durch Werlesiel. Sein Blaulicht blinkte rhythmisch und stumm ohne Martinshorn. Femke hatte es, ohne nachzudenken, eingeschaltet, denn diese Fahrt war ein Notfall, ein Ernstfall, ein …
Mit den Handballen wischte sie sich die Nässe aus dem Gesicht und zog die Nase hoch. Ihre Augen brannten vom Weinen. Ihre Knie waren immer noch weich. Im Kopf fühlte es sich an, als habe jemand gegen ihr Gehirn geschlagen und es in Rotation versetzt. Sie nahm die Straße kaum wahr, die sich im milchigen Dunst vor ihr erstreckte. Automatisch bog sie in die Grundstückseinfahrt ein – wie so oft zuvor. Und doch war heute alles anders. Genauer gesagt, seit vorhin, als Reents ihr die Bilder gezeigt und sich für Femke schlagartig alle Puzzlestücke zu einem Bild zusammengefügt hatten. Alles, was ihr jetzt noch fehlte, war eine Bestätigung.
Sie trat auf die Bremse. Der Wagen kam vor dem Reetdachhaus abrupt zum Stehen. Die Reifen knirschten im Kies und schoben ihn zu kleinen Haufen auf. Es klang, als zerträte man Cornflakes mit den Schuhen. Das Blaulicht zuckte und wurde von der Fassade zurückgeworfen.
Eine Zeitlang blieb Femke starr hinter dem Steuer sitzen. Der immer dichter werdende
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