Dünengrab
hatte ihr erklärt, dass er zuvor einige Zeit im Ausland gewesen sei, auf Gestüten in Belgien und Tschechien gearbeitet und daneben mit Objektschutz Geld verdient habe. Femke hatte stets angenommen, dass die gemeinsame Liebe zu Pferden sie verbinde – dass Ruven in den Tieren und der Reitergemeinschaft seine Ersatzfamilie gefunden habe. Aber alles, was sie über ihn zu wissen geglaubt hatte, war nun null und nichtig. Eine Illusion.
Das Foto in dem Album war keine Illusion. Es zeigte ohne Zweifel den Jungen, den Femke auch auf den Aufnahmen von Reents gesehen hatte: Michael Bartels, den Bruder des Mädchens, das in Werlesiel ertrunken und in den Dünen angespült worden war. Für diese Übereinstimmung konnte es nur eine Erklärung geben. Ruven war der Junge. Ruven war Michael Bartels. Ruven, der mit seinem Auto nachts Patrouille in Werlesiel fuhr. Ruven, der in den nebligen Nächten an der Werlesieler Brauerei die Frauen aufgelesen und anschließend getötet haben musste. Er ließ sie ertrinken wie seine Schwester und verscharrte sie dort, wo seine Schwester aufgefunden worden war. Femke spürte, wie etwas aus ihrem Innersten nach außen drängte – etwas Dunkles, das sich wie Wasser seinen Weg durch feine Risse suchte und durch nichts mehr aufzuhalten war. Sie musste sich an einem Regal festhalten und widerstand nur mit Mühe dem Drang, sich zu übergeben. Nein, dachte sie und wollte es laut herausschreien, nein, das war nicht der Ruven, den sie kannte. Das konnte und durfte nicht sein. All die Jahre konnte sie sich doch nicht so in ihm getäuscht haben. Er war nicht böse. Er war kein Teufel, kein hochgefährlicher Psychopath. Er war liebevoll, umsichtig, er war … Femke vernahm ein Motorengeräusch und erstarrte. Es klang nicht wie ein Sportwagen. Es war das Röhren eines SUVs, der mit hoher Geschwindigkeit von der Straße abbog und sich durch den Kies in der Auffahrt fräste und scharf bremste. In diesem Moment begriff Femke, dass sie über allem die Zeit vergessen hatte und keine fünfzehn, zehn oder fünf Minuten mehr blieben, bis der Hausbesitzer erschien. Es waren allenfalls noch fünf Sekunden.
72
Das kleine Dreieck auf dem Display des Navigationsgeräts bewegte sich von Werlesiel in Richtung Westen entlang der Küstenstraße. Tjark schlug mit dem Handballen auf das Lenkrad. Der BMW schien in dem dichten Nebel über die Straße zu kriechen. Die Sichtweite lag bei gerade mal zehn Metern. Verdammt, das ging viel zu langsam. Tjark überlegte, dass Piloten weitaus größere Maschinen als einen perforierten Z4 nur auf der Grundlage von Instrumentenanzeigen navigierten. Er legte den dritten Gang ein und gab Gas.
Femke hatte angerufen und gesagt, dass der Nebel eine Konstante sein könne – und damit hatte sie vielleicht recht. Sie meinte, dass Ruven der Mann sein könne, den sie suchten. In der Tat passte er durchaus ins Profil. Ruven war oft nachts unterwegs. Wie heute bewachte er private Feste bei Werlesieler und schnappte sich dort womöglich seine Opfer, die draußen betrunken auf ein Taxi warteten. Er schlug im Nebel zu, weil dieser Nebel in seinem Wahn und in seiner Vita eine Rolle spielte. Ruven war durch seine Nähe zu Femke außerdem stets bestens informiert gewesen. Und wie sie hatte er, Tjark Wolf, Ruven rundherum vertraut – sogar so weit, dass er trotz seiner Furcht vor dem Wasser mit ihm segeln gewesen war und dabei über Plattbodenboote diskutiert hatte, ohne dabei ernsthaft darüber nachzudenken, dass er gerade auf einem solchen saß.
Dennoch gab es weder Indizien noch ein Motiv. Außerdem hatte Ruven der Polizei immer wieder geholfen. Tjark hatte nicht ein einziges Mal das Gefühl gehabt, dass Ruven dabei nervös gewesen wäre. Konnte ein Mensch andere derart täuschen? Tjark war sich nicht sicher. Es war, wie wenn man sich fragte, ob man zu Hause die Kaffeemaschine angelassen hatte. Verlässlich herausfinden konnte man das nur, wenn man es überprüfte – und das würde er in wenigen Minuten tun, wenn er sich endlich durch diese Nebelsuppe gekämpft und ohne einen Unfall zu bauen das Haus von Ruven erreicht hatte. Femke hatte ihm erklärt, wo er es finden würde. Sie hatte sich außerdem über seine Anweisung hinweggesetzt, ihren Hintern wieder in die Wache zu bewegen, statt es allein auf die direkte Konfrontation mit einem möglichen Tatverdächtigen anzulegen, der bewaffnet und höchst gefährlich sein könnte. Purer Leichtsinn und unprofessionell – Femke hätte es besser wissen
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