Dünengrab
einen elektronischen Piepton – dieses Mal jedoch im Kopfhörer.
»Sekunde«, sagte Tjark. »Ich muss ein Gespräch annehmen.«
Ceylan wendete sich zu Ruven und fragte: »Alles klar?«
Er machte eine ratlose Geste. »Eine Alarmanlage an einem von uns überwachten Gebäude ist angesprungen. Ich muss das leider sofort checken.«
»Gibt das kein Signal bei der Wache?«
»Doch.«
»Schicken Sie jemanden los?«
»In diesem Fall muss ich persönlich nach dem Rechten sehen.«
Ceylan runzelte die Stirn. Damit war ihre Mission nun wohl wirklich beendet. Ruven zuckte entschuldigend mit den Achseln. Er drehte sich um und hielt auf einen Geländewagen zu. Dann meldete sich Tjark zurück. An seiner Stimme hörte Ceylan sofort, dass etwas nicht Ordnung war.
»Ceylan, hast du eine Dienstwaffe?« Seine Worte durchfuhren sie wie ein Stromschlag.
»Natürlich nicht …«, stammelte sie.
Die Lichter von Ruvens Geländewagen blendeten auf. Kurz darauf röhrte der Motor.
»Ist Ruven bei dir?«
»Er hat sich gerade in sein Auto gesetzt, weil eine Alarm…«
Tjark fiel Ceylan ins Wort. »Sieh zu, dass du da draußen wegkommst«, sagte er.
»Gibt es ein Problem?« Sie hörte Tjark atmen und danach ein Geräusch, als würde eine Autotür laut zugeworfen.
»Geh wieder rein. Misch dich unter die Leute.«
»Also haben wir ein Problem.« Ceylan betrachtete den SUV . Er fuhr an.
»Fred ist auf dem Weg zu dir«, sagte Tjark.
»Gut.« Sie blickte den Rücklichtern von Ruvens Wagen hinterher, der mit quietschenden Reifen vom Gelände fuhr.
71
Femke steckte das Handy wieder ein. Endlich hatte sie Tjark erreicht. Er hatte ihr erklärt, dass eine Standleitung die Verbindung bislang blockiert hätte. Daraufhin hatte sie ihm in knappen Worten geschildert, was es nach ihrer Meinung mit dem Nebel auf sich hatte, und erklärt, wo sie sich nun befand. Und wieso. Bevor er sie zurückpfeifen konnte, hatte sie das Gespräch beendet.
Femke ging durch das Wohnzimmer und folgte dem Lichtstrahl der Taschenlampe nach unten in den Keller, wo sich ein Arbeitsraum mit einer kleinen Hobbywerkstatt befand. Sechs hölzerne Treppenstufen führten dorthin. Der Lichtschalter saß rechts. Femke betätigte ihn und blinzelte. Dann legte sie die Taschenlampe zur Seite, ging auf das Regal zu und zog den alten Koffer aus der Ecke. Er hätte staubig und mit Spinnenweben überzogen sein müssen, sah aber aus wie frisch geputzt. Die Verschlüsse öffneten sich mit einem Klacken. Sie hob den Deckel an und nahm das große, in blaues Leder eingebundene Fotoalbum heraus. Sie schlug die erste Seite auf, blätterte weiter und fand schließlich, wonach sie gesucht hatte.
Das Bild zeigte einen kleinen Jungen, der in die Kamera lachte. Er trug einen roten Nicki und eine helle Leinenhose. Er streckte dem Fotografen eine Muschel entgegen. In der anderen Hand hielt er eine Schaufel. Die kleinen Füße waren im Sand vergraben. Darunter stand in einer weiblichen Handschrift »Werlesiel 1975«.
Femke ballte die Faust und biss sich in die Knöchel. Sie blätterte einige Seiten vor. Dort waren Babyfotos eingeklebt. Ein kleines Mädchen hielt sein Brüderchen auf dem Schoß, planschte mit ihm in der Badewanne. Andere zeigten den Jungen mit vielleicht einem Jahr, auf dem Bauch liegend und bei dem Versuch, Blütenblätter von einem Blumenstrauß abzupflücken. Die hinteren Seiten zeigten keine Kinderbilder mehr, nur noch einige Landschaftsaufnahmen. Aber Femke hatte genug gesehen. Sie fühlte sich kraftlos, ausgebrannt, als sei ihr der Boden unter den Füßen weggezogen worden.
Ruven.
Woher war er tatsächlich gekommen? Wann? Warum? Was wusste sie wirklich über ihn? Er stammte aus Oldenburg, das hatte er Femke erzählt. Auch von seiner Schwester hatte er gelegentlich gesprochen, selten von den Eltern, und Femke hatte nicht nachgebohrt. Die Schwester war im Alter von acht Jahren an Leukämie erkrankt und kurz darauf gestorben – und Femke hatte sich eingebildet, dass er so wenig von seiner Vergangenheit sprach, weil er das meiste davon verdrängt und den Nebel des Vergessens darübergebreitet hatte. Sie hatte sich eingeredet, das gut verstehen zu können – der Tod seiner Schwester hatte die Kindheit überschattet, seine Eltern in der Ohnmacht über den Verlust das noch lebende Kind und seine Bedürfnisse vernachlässigt. Vor vielleicht zehn Jahren war Ruven in Werlesiel aufgetaucht und hatte als Bereiter begonnen. So hatte sie ihn kennen- und später lieben gelernt. Er
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