Dünengrab
Um sie herum war alles leuchtend rot. Das Licht der Sonne schien durch das Fleisch des Tieres – so musste es für einen Embryo im Mutterleib sein. Babys liebten die Farbe Rot, wahrscheinlich, weil es sie an die Gebärmutter erinnerte, dachte Vikki. Aber da war sie nicht. Sie war gefressen worden, und jetzt spürte sie, dass die Magensäure heranschwappte, ihr über die Füße strömte, und Vikki wartete auf das Zischen, das ihr Fleisch zersetzen würde. Sie wollte schreien, aber das ging nicht. Wer sollte sie, die sie im Inneren eines Fisches steckte, auch hören? Außerdem bekam sie keine Luft. Hier drinnen gab es keine. Wenn sie Glück hatte, würde sie ersticken, bevor die Säure sie verbrannte. Sie versuchte, den Kopf zu bewegen. Ihre Lider waren schwer wie Blei und wie verschmiert – von Haimagenschleim oder Walbauchglibber.
Es musste ein riesiger Fisch sein, dachte Vikki. Denn da war auch etwas in seinem Bauch, das sich anfühlte wie eine mit Algen bewachsene Kette. Haie fraßen alles Mögliche, natürlich, das hatte Papa ihr einmal erzählt. Andererseits gab es keine solchen großen Haie in der Nordsee. Kleinere schon, aber keine, die einen Menschen verschlingen konnten. Wale fraßen ohnehin keine Menschen, und Wale, die groß genug dafür wären, einen versehentlich zu verschlucken, schwammen nicht ins Wattenmeer. Wo, zum Teufel, kam also die Kette her?
Vikki öffnete die Augen. Ihr Kopf tat fürchterlich weh. Und bevor sie verstand, was es mit der Kette auf sich hatte, und begriff, wo sie sich tatsächlich befand, rollte die Erinnerung wie eine Woge über sie.
Der Mann! Ihr Befreiungsversuch! Das Kabel! Sie musste einen Stromschlag bekommen haben! Es fühlte sich an, als habe sie einen gigantischen Muskelkater. Sie war tatsächlich so dumm gewesen, anzunehmen, der Kerl hätte sie mit einem unter Spannung stehenden Kabel allein in dem Raum gelassen. Sie hatte in der Pfütze gelegen, worauf der Mann den Strom mit dem Dimmer eingeschaltet hatte – ausreichend schwach, um sie nicht zu töten, aber stark genug, dass sie das Bewusstsein verloren hatte und er sie an diesen anderen Ort bringen konnte. Vikki registrierte nun, dass doch nicht alles um sie herum rot war. Es war zum Teil weiß und braun. Sie blickte an sich herab. Ihre Beine waren schlammverkrustet. Die Füße steckten im Matsch. Es schmatzte, als sie die Zehen bewegte. Das Braune war Schlick. Sie musste sich im Watt befinden – und das Weiß, das war Nebel.
Die Kette! Vikki folgte den massiven Gliedern mit den Blicken. Die Kette lag wie eine Seeschlange gewunden im Schlick. Das eine Ende verschwand im Boden. Das andere war an einer großen Öse befestigt. Diese Öse war weiß gestrichen, und sie war befestigt an etwas, das …
Und nun erfasste Vikki ihre Situation vollkommen. Ihr Mund war verklebt. Deswegen konnte sie so schlecht atmen. Wie eine Gekreuzigte war sie mit den Armen an einem riesigen Etwas befestigt, das im Schlick auf dem Boden lag. Bei dem Etwas handelte es sich um eine Boje. Solche großen Bojen befanden sich meist weit draußen. Wenn das Wasser steigen und die Boje anheben würde, würde Vikki langsam und qualvoll ertrinken, daran bestand kein Zweifel. Da war noch etwas, an dem es keinen Zweifel gab: Das laute Rauschen um sie herum war das Meer. Die Nordsee kam.
67
Die Präsentation startete mit angenehmer Lounge-Musik. Auf dem Bildschirm erkannte Ceylan nun statt des Logos der Brauerei ein grafisches Emblem, das eine stilisierte Robbe auf einer Welle darstellte. Beide verschmolzen miteinander. Darunter wurden Schlagworte eingeblendet – Erlebnis. Wellness. Gesundheit. Fun. Familie – und schließlich von einem Namen überlagert, der »Aquapalace Werlesiel« lautete. Dann war eine rotierende Weltkugel zu sehen. Wie ein aus dem Weltraum abstürzender Satellit jagte die Kamera auf die Erdoberfläche zu und stieß schließlich auf ein gigantisches Areal an der Küste, um es zu umkreisen. Stück für Stück schossen futuristisch anmutende Baukörper aus dem Boden. Linien überspannten den Untergrund in Bogenform. Dazwischen erschienen Glaselemente wie aus dem Nichts, und am Ende sah es aus, als sei ein Raumschiff gelandet, das im Wesentlichen aus riesigen Seifenblasen zu bestehen schien. Schließlich glitt die Kamera durch eine der Blasen, in deren Innerem sich eine Oasenlandschaft aus Palmen, Strand und Wellen entfaltete. Ceylan musste an einen Science-Fiction-Film denken, in dem eine karibische Traumlandschaft unter großen
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