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Dünengrab

Dünengrab

Titel: Dünengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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zwang sich, auf die Straße zu achten. Einen Beinaheunfall wie gerade konnte er sich nicht noch einmal leisten. Noch ein Kilometer. Irgendwo musste gleich die Einfahrt auftauchen. Er durfte sie nicht verpassen, denn er hatte das Gefühl, dass jede Sekunde zählte, um das Schlimmste zu verhindern.

75
    »Entspann dich, Femke«, sagte Ruven betont ruhig und trat einen Schritt zur Seite. Er hob die Arme in Schulterhöhe und wandte ihr die Handflächen zu. Er deutete mit einem Kopfnicken zur Arbeitsplatte. »Das ist mein Handy, damit kann ich dir nichts tun. Und ich habe auch nicht vor, ein Messer zu nehmen. Ich will dir überhaupt nichts tun.«
    »Du hast schon genug getan«, sagte Femke leise. Ihr Hals brannte, und ihr Magen fühlte sich an, als sei er zu einem orange glühenden Stück Kohle geschrumpft.
    »Nimm bitte die Waffe runter!«
    Femke presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie blickte kurz zum Fenster. Kein Scheinwerferlicht. Kein Blaulicht.
    »Warum dringst du in meine Wohnung ein, löst den Alarm aus und zielst mit einer Waffe auf mich? Bekomme ich eine Erklärung?«, fragte Ruven.
    Femke lachte bitter. So wie sie das sah, war vielmehr Ruven ihr einige Erklärungen schuldig – und zwar eine ganze Lkw-Ladung voll von Erklärungen.
    »Wo ist Vikki?«
    Ruven starrte Femke ungläubig an. »Du glaubst doch nicht etwa …« Dann schien ihm klarzuwerden, was Femke dachte. »Du meinst …«, sagte er und ließ die nächste Frage im Raum stehen, weil er sich scheinbar gerade selbst die Antwort im Stillen gab.
    »Werlesiel, 1975«, presste Femke hervor. »Was sagt dir das?«
    »Ich war mit meinen Eltern oft im Urlaub hier. Das weißt du doch ganz genau.«
    »Ich glaube, dass ich überhaupt nichts weiß.«
    »Worauf willst du hinaus?«
    »1975 in Werlesiel. Du gehst mit deiner Schwester im Watt spielen. Deine Eltern geben nicht auf euch acht. Es zieht Nebel auf. Deine Schwester stürzt in einen Priel und ertrinkt – oder sie wird gar hineingestoßen, und zwar von dir …«
    »Femke …« Ruven schüttelte kraftlos den Kopf.
    »Sie ist nicht an Leukämie gestorben. Das war eine deiner Lügen. Eine von vielen. Ihre Leiche wurde an der Stelle angespült, wo du später die Leichen der Frauen begraben hast – osteuropäische Prostituierte von Mommsens Festen, die sicher keiner vermissen würde, hast du gedacht. Aber dann hast du dir die Falsche geschnappt, du hast dir Vikki geschnappt. Alles ging schief, und ich frage dich noch einmal: Wo ist Vikki?«
    Ruven ballte die Hände zu Fäusten. »Was!«, schrie er und stieß jedes Wort einzeln aus, wobei kleine Speicheltröpfchen durch den Raum sprühten, »Erlaubst! Du! Dir!«
    Femke zuckte zusammen und griff die Pistole fester. Ein Schweißfilm hatte sich zwischen ihrer Handfläche und der Kunststoffverschalung gebildet. Erschien dort am Fenster ein Licht? Femke sagte: »Ich habe das Foto gesehen.«
    Ruven verkniff das Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen. »Wovon redest du, in Gottes Namen?«
    »Ich rede von dem Fotoalbum in deinem Keller, wo du die Sachen aufbewahrst, die dir angeblich von deiner Kindheit geblieben sind.« Vor Jahren hatte sie einmal dort geschnüffelt – schlicht und ergreifend, weil sie neugierig gewesen war. Sie hatte den Koffer gefunden und hineingesehen, aber nie darüber gesprochen. Sie hatte sich gewünscht, dass Ruven ihr eines Tages das Album zeigen würde, aber er hatte es nicht getan. Tja, nun war der Zeitpunkt gekommen, darüber zu reden. »Ich rede von dem Foto in deinem Album. Das Bild von dem Jungen am Strand. Darunter steht ›Werlesiel 1975‹. Der Junge bist du. Der gleiche Junge ist auf Zeitungsbildern vom Unglücksort mit seinen Eltern zu sehen. Das bist ebenfalls du.«
    Ruven wischte sich mit den Händen durchs Gesicht. »Femke«, sagte er kraftlos, »du redest dir da etwas ein.«
    »Blödsinn.«
    »Das Bild zeigt nicht mich.«
    »Lügner.«
    »Das Bild zeigt irgendeinen Jungen, aber nicht mich.«
    »Unsinn.«
    »Femke, was willst du von mir?«
    Scheinwerferlicht fiel durchs Fenster. Ein Motor röhrte. Reifen knirschten im Kies. Tjark.
    »Ich will eine Antwort, Ruven. Du hast mich jahrelang belogen und betrogen. Ich will wissen, warum.«
    Statt zu antworten, schüttelte Ruven erneut den Kopf. »Femke, Femke«, sagte er leise, »wohin hat uns das alles nur gebracht?«

76
    Ceylan und Fred konnten die Ausmaße des Bunkers nicht genau abschätzen, aber eines war klar: Das Ding war riesig, und verlassen wirkte es

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