Dünengrab
Erinnerung lag wie unter einem dichten Nebel begraben und war endlos weit entfernt.
Wie war sie in diese Lage geraten? Da waren einzelne Bilder – lachende Männer, Hände auf ihrem Körper, Lippen, der Geruch nach Zigarren. Aber war das real, oder bildete sie sich das nur ein? Gott, sie musste randvoll mit irgendeinem Scheiß gewesen sein – aber sie hatte keinerlei Erinnerung daran, dass sie überhaupt etwas genommen hatte. Sie wusste nicht einmal, wie sie in sein Auto gelangt war und ob sie das rote Kleid, das schmutzig und zerfetzt an ihrem Körper hing, schon vorher getragen hatte.
Die Tür öffnete und schloss sich, ohne dass ein Licht durch den Spalt gefallen wäre. Vikki schloss die Augen, biss sich auf die Unterlippe, bis sie erneut aufplatzte und es in ihrem Mund schmeckte, als habe sie an einer Batterie geleckt. Sie versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, spürte aber unmittelbar den straffen Zug der Schlinge am Hals.
»Ich würde damit etwas aufpassen«, sagte der Mann. »Du hast sicher schon herausgefunden, was passiert, wenn du zu stark daran ziehst.«
Vikki nickte. Sie öffnete die Augen und sah ihn im bleichen Licht einer Glühbirne stehen. Er trug eine schwarze Hose, eine schwarze Jacke, Handschuhe und einen Nylonstrumpf über den Kopf, was sein Gesicht zu einer grässlichen Grimasse verzerrte. Sein Alter war unmöglich einzuschätzen.
»Liebst du mich?«, fragte er.
Wieder diese Frage. Als er sie zum ersten Mal gestellt hatte, hatte Vikki »Nein« geschrien – und deutlich zu spüren bekommen, dass das die falsche Antwort war. Und in einem anderen Leben hatten ihr Kolleginnen den Tipp gegeben: Wenn du mit irren Freiern zu tun hast, spiel ihr Spiel eine Weile mit, bis sie abgelenkt sind, dann nimm das Geld und renne um dein Leben. Nun, weglaufen war schlecht möglich. Also blieb Vikki nichts anderes übrig, als sich in die Rolle zu fügen, die er für sie vorgesehen hatte. Zumindest, wenn sie noch eine Weile überleben wollte. »Ja«, antwortete Vikki also dieses Mal. Im nächsten Augenblick verpasste er ihr eine heftige Ohrfeige.
»Lügnerin.« Er schlug erneut zu.
Vikki keuchte. Ihre Wangen standen in Flammen. Als die Sterne vor ihren Augen verschwunden waren, sagte sie leise: »Wie könnte ich dich lieben bei dem, was du mir antust.«
Sie hörte den Mann lachen. »Du wirst mich lieben lernen«, sagte er, und in dem Moment blieb Vikkis Herz stehen, denn das hatte er schon einmal zu ihr gesagt, und dann hatte er sie … Sie verdrängte den Gedanken daran.
»Ich werde es dich lehren«, fügte er hinzu, ging zur Seite und legte einen Hebel am Stromkasten um. Dann kam er zurück und löste die Schlinge an Vikkis Hals.
»Bitte, nicht wieder!« Ihre Stimme war ein Wimmern. Sie ahnte, dass es falsch war, ihn anzuflehen, denn das spornte ihn womöglich an. Aber sie konnte nicht anders. O Gott, nein, sie konnte nicht anders. Als Nächstes griff seine Hand in ihre Haare und packte sie fest. Jetzt wurde Vikkis Stimme zu einem Kreischen. »Ich mache alles, was Sie wollen, bitte!« Doch er blieb unerbittlich, zog Vikki wie eine Puppe zu dem Wasserfass und wuchtete ihren Körper über den Rand.
Vikki roch das brackige Salzwasser, das sich mit ihren Tränen vermischte. Dann spürte sie einen stechenden Schmerz im Unterleib.
»Liebst du mich?«, fragt er.
»Nein«, stieß Vikki hervor.
Im nächsten Moment wurde ihr Kopf unter Wasser gedrückt. Es drang in Nase und Mund. Sie schluckte einen Teil davon und musste husten, was in einem Schwall von Luftblasen unterging. Ihre Lungen drohten zu platzen. Ihre Bronchien brannten. Ein einziger Gedanke raste durch die Windungen ihres Gehirns, ein einziges Wort: Luft. Sie versuchte, gegen den Druck im Nacken anzukämpfen, aber der Mann war zu stark.
Kurz bevor sie die Schwärze umfing, wurde ihr Kopf wieder aus dem Wasser gerissen. Tief sog Vikki Luft ein, verschluckte dabei etwas Wasser, musste erneut husten und sich dann in das Wasserfass erbrechen. Es kam nichts als Galle. Kaum hatte sie sich wieder gefangen, spürte sie seinen heißen Atem am Ohr.
»Liebst du mich?«
»Nein«, antwortete sie heiser. »Ich hasse dich und würde dich am liebsten umbringen!«
»Das ist mein Mädchen«, sagte der Mann und lachte.
Dann drückte er Vikkis Kopf unter Wasser – wieder und wieder.
18
Der Helikopter schwebte im weißen Himmel. Die Rotorblätter durchschnitten die Luft und sorgten dafür, dass sich unten die Oberfläche des Wattenmeers kräuselte
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