Dünengrab
näherten sich aus Richtung Werlesiel. Der Wind verschluckte die Motorengeräusche. Tjark drehte sich um. Der Fahrer schien das Tempo zu reduzieren, bis er in einigen hundert Metern Abstand fast zum Stillstand kam. Dann blendeten die Lichter auf. Tjark musste blinzeln. Als das Fernlicht kurz darauf wieder erlosch, tanzten grüne und lilafarbene Punkte auf seiner Netzhaut Tango. Schließlich nahm der Wagen wieder Fahrt auf. Kurz darauf rauschte er an Tjark und Femke vorbei. Es handelte sich um eine dunkle Limousine, einen 500er Mercedes, mit dem Kennzeichen WTM für Wittmund, gefolgt von WS 101. Diese Endungen wurden oft bei Dienst- und Firmenwagen verwendet. Soweit Tjark hatte erkennen können, saß am Steuer ein älterer Mann.
Noch bevor er Femke fragen konnte, sagte sie: »Knut Mommsen. Mommsen gehört die Werlesieler Brauerei. Das ist sein Wagen. Ich habe ihn bereits diverse Male wegen Falschparkens aufschreiben lassen. Ich glaube aber, dass sämtliche Strafzettel auf wundersame Art und Weise im Ordnungsamt verschollen gehen – Mommsen führt sich auf, als dürfe er sein Pferd überall anbinden, bloß weil …«
Tjark hörte nicht weiter zu. Er konnte nur noch an den Uferstreifen denken. Und an das, was er vielleicht vor ihm verbarg. Er klemmte die Zigarette in den Mundwinkel und zog das Handy aus der Innentasche.
»Wen rufst du an?«, hörte er die Stimme von Femke, antwortete aber nicht darauf. Stattdessen wählte er Freds Nummer, der nach dem zweiten Klingeln abnahm.
»Fred«, sagte Tjark, »wenn du wieder aufkreuzt, dann bring ein paar von unseren Freunden mit.«
17
Vikki konnte die Geräusche nicht zuordnen. Aber sie verhießen nichts Gutes. Sie verhießen, dass er kam.
Es klang hohl und polternd, vermutlich seine Schritte auf hölzernen Stufen. Wenn man wie Vikki hier im stillen Halbdunkel vor sich hin vegetierte, wurden die Sinne geschärft. Nach einiger Zeit – Stunden, Tagen oder Wochen, wer wusste das schon – hatte sie ein stilles, beständiges Klopfen wahrgenommen, das sie zunächst schier wahnsinnig gemacht hatte. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Der Klang gehörte zu der neuen Welt, in der sie jetzt lebte – so wie Vogelgezwitscher oder Geräusche von der Straße in der alten Welt. Was nicht mehr zu den Klängen in ihrer Umgebung gehörte, waren ihre eigenen Schreie. Vikki hatte so lange um Hilfe gerufen, bis ihr der Hals weh tat. Nichts war geschehen. Es hatte weder geholfen, noch hatte sie sich besser dadurch gefühlt. Also war es klüger, die Kraft zu sparen. Wer wusste schon, wofür sie die noch brauchen könnte.
Mit der Zeit hatte sie auch die Gerüche einordnen können. Der feuchte Moder hatte Facetten und detaillierte Noten bekommen, die sie darauf schließen ließen, dass er von Algen und Salzwasser sowie nassem Holz verursacht wurde. Ihre Augen hatten sich an das schummrige Dämmerlicht angepasst. Sie hatte Wände ausgemacht, Balken, eine Kiste, die massive Metalltür, leere Regale – und das Fass, das randvoll mit Nordseewasser gefüllt war.
O Gott, das Fass.
Ihre Haut hatte an Sensibilität gewonnen und Vikki vermittelt, dass der Boden aus brüchigem Beton bestehen musste. Alles in allem, so hatte sie gefolgert, lag sie wohl in einer Art Keller – in seinem Reich, wo auch immer es liegen mochte.
Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt. Kalte Furcht ergriff Vikki. Sie versuchte, sich zu bewegen, was ihr aus zwei Gründen schwerfiel. Zum einen war sie wie ein Paket verschnürt. Die Fußgelenke waren mit Kabelbinder zusammengebunden, der tief in die Haut schnitt, weswegen sich bereits eine blutige Kruste um den Kunststoff herum gebildet hatte. Die Hände waren auf den Rücken gefesselt. Um den Hals trug sie eine Metallschlinge, die mit einem Draht an einer Art Schaltkasten befestigt war. Den Sinn dieser Vorrichtung hatte sie bereits schmerzhaft erfahren: Wenn sie sich zu heftig bewegte, löste die Schlinge in dem Kasten einen Impuls aus, der wiederum zur Folge hatte, dass Vikki einen heftigen Stromschlag bekam.
Zweitens konnte sie sich nur schwer bewegen, weil ihre Muskulatur infolge der Stromschläge und vorheriger Torturen so weh tat, als litte sie an einem gigantischen Muskelkater. In ihrem Kopf hämmerte es, die Schmerzen von ihren Verletzungen nahm sie kaum noch wahr – sie gingen im großen Ganzen unter. Die Wunden stammten von seinen Schlägen und davon, dass sie aus dem fahrenden Auto gesprungen war. Vielleicht war das aber nur ein Traum gewesen. Die
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