Dünengrab
Einerseits mochte es sein, dass das Opfer zu Fuß nach Hause gegangen und angefahren worden war. Der Aufprall wäre dann vorne an der Beifahrerseite erfolgt. Die Wucht hätte Fahrzeugteile gelöst, die am Straßenrand liegen müssten, Plastiksplitter von der Scheinwerferverkleidung zum Beispiel. Aber da waren keine. Hätte der Wagen das Opfer mitgeschleift, hätte es die Blutmarkierungen erst am Ende des Bremswegs gegeben. Das haute nicht hin. Also war ein anderes Szenario wahrscheinlicher.
Wenn die Frau hingegen bei der geringen Geschwindigkeit aus dem Auto geworfen worden war, dürfte sie etwa fünf Meter links von Tjarks Position aufgeschlagen und den Rest des Weges bis zu seinem Standort gerollt oder gestolpert sein. In der Zwischenzeit hatte der Fahrer gestoppt. Aber warum sollte jemand eine Person aus dem Wagen werfen, um sie schon in der nächsten Sekunde wieder aufsammeln zu wollen?
Weil sie gesprungen ist, überlegte Tjark. Femke hatte erklärt, dass an dem betreffenden Abend dichter Nebel geherrscht hatte. Also war der Wagen nur langsam unterwegs gewesen, und die Frau hatte die Chance genutzt. Daraufhin war der Fahrer in die Eisen gegangen, aber sie entkam, irrte durch den Nebel und bat bei Fokko Broer um Hilfe. Tjark ging einige Schritte nach links. Da war ein dunkler Fleck auf dem Asphalt. Er umkreiste die Stelle und nebelte den Boden mit Spray ein.
»Das ist die Stelle«, sagte Femke, »die ich fotografiert hatte. Es muss das Blut von Vikki …«
Tjark fiel Femke ins Wort. »Es ist erst Vikkis Blut, wenn das Labor sagt, dass es Vikkis Blut ist. Ich will hier kein Klugscheißer sein. Aber jeder Staatsanwalt würde dir sofort einen Strick daraus drehen, wenn du das ohne Belege behauptest und dich nicht doppelt und dreifach abgesichert hast. Das ist ein Haifischbecken da draußen.«
»Was macht der Staatsanwalt mit Ermittlern, die die Spurensicherung in die eigene Hand nehmen und damit in eine mögliche Beweismittelkette eingreifen?«
Tjark schmunzelte. »Das Gleiche.«
Femke verschränkte die Arme und verlagerte ihr Gewicht vom rechten auf das linke Bein. »Ich bin kein kleines Mädchen, und ich bin auch keine Anfängerin.«
Tjark warf Femke noch einen Blick zu. Natürlich war sie weder das eine noch das andere. Ganz und gar nicht. Sie gefiel ihm sogar ausnehmend gut, und ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass er sich wie ein Arsch verhielt, um sie auf Distanz zu halten. Er senkte die Lampe und deutete auf die nunmehr leuchtend hellen Stellen, die einige Meter voneinander entfernt lagen. Manche waren verwischt, andere gesprenkelt, als habe jemand mit einem feinen Pinsel Farbe auf die Straße geklatscht.
»Wenn wir einen Unfall also ausschließen, ergibt sich für mich folgendes Bild: Die Frau ist hier aus dem Auto gesprungen«, erklärte Tjark und vollzog die Bewegung wie ein Tänzer nach. »Die verwischten Spuren dort auf dem Straßenbelag zeigen den Hautabrieb und Blut. Dann ist sie dort durchs Gras gerollt«, er deutete auf den Seitenstreifen, »und schließlich von dem Sanddornbewuchs gestoppt worden.« Tjark musterte die Spuren. »Aber etwas ist bemerkenswert.«
»Ich finde so einiges bemerkenswert.«
»Diese Spuren dort …« Tjark wies auf die Pinselspritzer. »Es sind kreisförmige Markierungen mit Ausreißern in Fahrtrichtung.«
»Was bedeuten könnte«, sagte Femke, »dass das Opfer bereits geblutet hat, als es aus dem Auto sprang?«
»Stimmt.«
»Was glaubst du, ist genau passiert?«
Tjark antwortete nicht. Er ließ das Spray in der Sakkotasche verschwinden und steckte sich eine Zigarette an. Dann nahm er die Tatortlampe, schob den Filter zur Seite und stellte auf LED -Betrieb um. Sofort wurde der dicht bewachsene Uferstreifen in grelles Licht getaucht, das sich weit dahinter im Watt verlor.
»Diese Hecken«, fragte er leise, »fangen kurz hinter Werlesiel an und reichen bis nach Bornum, richtig?«
»Ja. Der Bewuchs soll das Land befestigen. Der Streifen ist so gut wie undurchdringlich – es sei denn, du willst dir die Haut vom Leib reißen.«
Tjark leuchtete einige Male hin und her. Bis zum Watt waren es wohl um die fünfzig Meter. Die Strecke zwischen Bornum und Werlesiel betrug neun Kilometer. Das machte insgesamt ein Areal von etwa siebzig Fußballfeldern aus. Tjark hatte nirgends in der Gegend Wald gesehen. Das Land war flach und mit Gras bewachsen. Wenn hier jemand etwas loswerden wollte, waren der Uferbewuchs oder das Meer die perfekten Orte dafür.
Autoscheinwerfer
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