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Dünengrab

Dünengrab

Titel: Dünengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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auf einen Rest Körpertemperatur – für den Fall, dass hier jemand lebendig oder doch erst vor kurzem begraben worden war.
    »Buddelt am unteren Ende«, sagte er zu den Kollegen und ging dann zum Hügel. Fred hielt ihn nicht zurück.
    Der Polizist in dem grünen Overall der Hundertschaft legte die Stange beiseite und ließ sich einen Klappspaten reichen. Behutsam begann er, ein kleines Loch zu schaufeln. In etwa dreißig Zentimetern Tiefe kam eine graue Folie zum Vorschein. Im nächsten Moment zuckte der Polizist zurück, ließ den Spaten fallen, wandte sich mit verzerrtem Gesicht ab und hielt sich Mund und Nase mit der Hand zu, so als habe er an einem offenen Kanister voller Ammoniak geschnüffelt.
    Tjark schloss für einen Moment die Augen und hielt die Luft an. Tatsächlich beinhaltete dieser typische Geruch eine Spur Ammoniak sowie Schwefel und Methan. Seine wesentlichen Bestandteile waren Cadaverin und Putrescin, was sich von den lateinischen Wörtern für »Leiche« sowie »faulen« ableitete. Er war bei Tieren und Menschen gleich, und wer ihn einmal wahrgenommen hatte, vergaß ihn niemals wieder.
    Tjark zog seinen Schlüsselbund hervor, an dem sich die Miniaturausgabe eines zusammenklappbaren Schweizer Armeemessers befand, ritzte mit der Klinge die Plane auf und warf einen Blick in den sich auftuenden Spalt. Es war, als öffnete man behutsam die Schranktür im Schlafzimmer, um zu überprüfen, ob sich dahinter ein Monster mit langen Zähnen und scharfen Krallen befand. Was Tjark sehen konnte, war zunächst nicht viel, aber genug.
    Seinen ersten Toten vergisst man nicht, heißt es. Die erste Leiche, die Tjark je gesehen hatte, hatte ihn an ein Tier erinnert, das unter die Räder eines Autos geraten war und aufgeplatzt mit herausquellenden Innereien am Fahrbahnrand lag. Tjark war damals frisch in der Ausbildung bei der Polizei und zu einem Unfall gerufen worden. Ein Biker hatte sich in einer Kurve bei einem Überholmanöver überschätzt. Er war frontal wie eine Fliege vor den Kühler eines Lieferwagens geklatscht, unter den Wagen gerissen und von der Stoßstange geköpft worden.
    Es war nicht Tjarks letzter Toter geblieben, und irgendwann hatte er sich an den Anblick gewöhnt. Ein Körper war nur noch eine leere Hülle, und wenn Tjark bei einer Obduktion den Medizinern bei der Arbeit zusah, war sein Interesse vor allem darauf gerichtet, Antworten zu erhalten. Antworten auf das Warum, auf das Wie und das Wann. Er dachte nicht darüber nach, dass ein Opfer viel zu früh aus dem Leben geschieden war, weil ein Täter oder die Umstände es so gefordert hatten. Er dachte nicht an die Angst und den Todeskampf oder die Schmerzen. All das lenkte ihn davon ab, das Böse zu isolieren, zu verorten und auszumerzen. Aber es gab nicht auf jedes Warum eine Antwort.
    Tjark zog mit den Fingern die offenen Enden der Folie etwas auseinander, um sich zu vergewissern. Was er sah, gehörte eindeutig nicht zu einem Tier. Es war ein Fuß, grünlich und schwarz angelaufen, mit Zehen so dick wie eine Wiener Wurst. Er nahm die Finger wieder weg, klappte das Messer zusammen und steckte den Schlüsselbund zurück in die Jackentasche. Dann stand er aus der Hocke auf und blickte zu Fred und Femke, die sich selbst mit den Armen umfangen hielt und deren Gesicht die blasse Farbe des Himmels angenommen hatte.
    Tjark fühlte sich für einen Moment so, als rase er in einem Fahrstuhl einer bodenlosen Tiefe entgegen. Dann legte sich der Schwindel, und er sagte zu Fred: »Wir sollten bei der Rechtsmedizin anrufen.«
    Fred nickte. Er wirkte nicht sonderlich verwundert.
    »Ist das Vikki?«, fragte Femke tonlos.
    »Ich glaube nicht«, antwortete Tjark kraftlos. So schnell verweste kein Mensch, dachte er, behielt das aber für sich.
    Etwa zwei Stunden später stand Tjark mit Fred an derselben Stelle im Quadranten 12F, der sich völlig verändert hatte und unwirklich wie eine Filmkulisse wirkte. Tjark hatte Femke fortgeschickt, um die Uferstraße abzusperren. Sie war erschüttert und wortlos gegangen und hatte beim Einsteigen in ihren Dienstwagen wie eine alte Frau gewirkt.
    Der Regen ließ nicht nach. Tjark zog sich die Kapuze seines Windbreakers über und steckte eine Zigarette an. Der Regen sprühte kleine Punkte in den Sand. Die Brise vom Meer wurde kräftiger. Beides hatte den Spürhunden, belgischen Schäferhunden, die Arbeit nicht leicht gemacht. Sie hatten an den beiden anderen Hügeln angeschlagen. Es war aber unwahrscheinlich, dass in einem

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