Dünengrab
sich beim dort diensthabenden Torsten, dass alles in Ordnung war – sofern man das angesichts der Ereignisse überhaupt behaupten konnte. Sie überlegte, ob sie ihn wegen seines Plappermauls zurechtweisen sollte, entschied aber, dass es weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt dafür war. Zwei Kilometer weiter stellte sie fest, dass die Bergungsarbeiten unter Flutlicht fortgesetzt wurden und mittlerweile von drei möglichen Leichenfunden ausgegangen wurde. Schließlich fuhr sie ins Büro, wo sie mehr oder minder nichts anderes tat, als Unterlagen zu sortieren, weil sie das Gefühl hatte, irgendetwas tun zu müssen, während draußen am Uferstreifen ein weiteres Opfer geborgen worden war, wie sie über Funk hörte. Erst nach vierundzwanzig Uhr fuhr sie nach Hause, wo sie lange überlegte, ob sie Tjark anrufen sollte, es dann aber unterließ, weil der im Moment sicher Besseres zu tun hatte. Sie wanderte im Wohnzimmer auf und ab, bis sie sich im Obergeschoss am Dachfenster wiederfand, von wo aus sie vergeblich zu erkennen versuchte, ob in der Ferne Lichter von den Scheinwerfern der Spusi zu sehen wären.
Die große Bahnhofsuhr in der Küche zeigte 1.43 Uhr, als Femke beschloss, die Wohnung zu saugen, weil sie am anderen Tag sicher nicht dazu kommen würde. Danach füllte sie einen Eimer mit Wasser, goss einen Spritzer Politur hinein und wischte die wurmstichigen Holzdielen, mit denen das kleine Reetdachhaus in allen Räumen ausgelegt war, um sich von ihren Gedanken abzulenken. Von den Gedanken daran, dass sich in Werlesiel alles ändern würde und sie tatenlos als Zaungast zuschauen musste.
Femke seufzte, krempelte die Ärmel auf und ging mit dem Eimer voller Schmutzwasser in das enge Bad, um den Inhalt in die Toilette zu gießen. Auf dem Spülkasten stand eine alte Kaffeekanne von Oma mit Trockenblumen. Oma Erna. Früher hatte ihr das Haus gehört, und Opa Paul hatte beim Bau tatkräftig mit angepackt. Femke kannte die Schwarzweißfotos von Paul mit einer Schiffermütze und bloßem Oberkörper, wie er beim Dachdecken half. Sie spülte ab, stellte den Eimer zur Seite, nahm einen Wischlappen und befeuchtete ihn im Waschbecken. Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer.
Paul hatte ein wenig wie Hans Albers ausgesehen – zumindest, hatte Oma immer mit einem verträumten Lächeln hinzugefügt, gab sich Paul alle Mühe, so zu wirken. Auf dem gerahmten Foto, das ihn mit einem Schifferklavier im Garten zeigte, war ihm das gut gelungen. Den Blick in die Ferne gerichtet, ein wenig abwesend, dennoch stechend. Auf dem Foto, das Paul in der Uniform zeigte, erinnerte er Femke eher an Statuen von Arno Breker oder Heldenaufnahmen von Leni Riefenstahl. »Kriegsmarine« stand auf der Banderole seiner Matrosenmütze. Paul war 1943 zwei Tage nach Weihnachten am Nordkap mit der Scharnhorst untergegangen. Nur das Haus und die Bilder waren von ihm geblieben, die Femke neben Fotos ihrer Oma und ihrer Eltern auf eine große Leinwand geklebt hatte. Sie hing in einem verzierten Goldrahmen über dem Ledersofa, das Femke jetzt mit dem feuchten Lappen wischte, während sie ein Lied summte, dessen Titel ihr partout nicht einfallen wollte.
Für Femke war es niemals ein Thema gewesen, den elterlichen Betrieb zu übernehmen. Das hatte vor allem zwei Gründe: Einerseits gehörten Femkes Eltern in Werlesiel zum Inventar, und Femke hatte kein Interesse daran, fester Bestandteil einer Ausstattung zu sein. Andererseits kannte zwar jeder im Ort Mama und Papa, für Femke selbst waren sie erschütternd fremd geblieben, da sie mehr mit der Bäckerei, der Pension und den Ferienwohnungen beschäftigt gewesen waren als mit ihrer Tochter. Familienurlaube in Spanien oder Italien gab es nicht, weil in den Ferien Hochsaison an der Küste herrschte. Wenn morgens die Schule begann, stand Mama bereits seit Stunden in der Backstube und danach am Verkaufstresen, während Papa das Frühstück für die Gäste vorbereitete und servierte. War die Schule zu Ende, musste Mama schlafen. Um Femke hatte sich Oma gekümmert.
Einen Großteil ihrer Kindheit und frühen Jugend hatte Femke in deren Haus verbracht. Oma war da gewesen, wenn Femke krank war. Sie hatte Rat gegeben, als die erste große Liebe kam, und Trost gespendet, als sie wieder zerbrach. Manchmal dachte Femke, dass der Duft von Omas Apfelkuchen sich auf irgendeine Art und Weise in den Holzdielen oder dem Gebälk verfangen haben musste und sich löste, wenn die Fenster offen standen und eine Brise
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