Dünengrab
davon Vikki Rickmers’ sterbliche Überreste lagen, dachte Tjark. Sie mussten schon vor längerer Zeit angelegt worden sein. Er sog am Filter und stieß etwas Rauch aus, den der Wind sofort zerstäubte.
»Das ist ein beschissener Friedhof«, sagte Fred, schlug den Kragen seiner Jacke hoch und wischte sich durchs Gesicht. Er sah müde aus. Müde und benommen.
Ein Friedhof. So schien es in der Tat, und Tjark glaubte nicht, dass die hier Bestatteten friedlich aus dem Leben geschieden und mit kirchlichen Sakramenten beigesetzt worden waren.
Die drei Hügel waren von der Spurensicherung umringt, wurden markiert, vermessen und videografiert. Zwei waren kaum noch als Erhebung wahrzunehmen. Sie mussten vor längerer Zeit angelegt worden sein, und entsprechend ihrem Zustand und wahrscheinlichen Alter waren die Grabstellen durchnumeriert worden. Über Hügel Nummer eins, in den Tjark vorhin einen Blick geworfen hatte, war gegen den Regen ein Zelt aufgebaut worden. Die Kollegen der Spurensicherung waren damit beschäftigt, den Sand abzutragen. Sie gingen behutsam mit kleinen Schaufeln, Pinseln und Sieben vor und wirkten dabei wie Archäologen.
Unweit des Zelts parkte ein silberner Kastenwagen, ein Renault. Es war das Dienstfahrzeug von der Oldenburger Außenstelle des Instituts für Rechtsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover. Tjark kannte auch die Fahrerin, die auf einem Klappstuhl unter dem Zelt mit einem Pappbecher in der einen Hand und einem Smartphone in der anderen saß. Mit dem Telefon schien sie weitaus intensiver beschäftigt zu sein als mit der Arbeit der Kollegen direkt vor ihrer Nase. Sie trug Gummistiefel mit Plastikgaloschen sowie einen faserfreien, weißen Overall. Neben ihr standen zwei Alukoffer. Auf einem lag ein Buch. Tjark konnte das Cover nicht erkennen. Aber er hätte sofort hundert Euro gewettet, dass ein Vampir oder Dämon darauf abgebildet war.
Tjark ging in die Hocke, drückte die Zigarette im Sand aus und ließ die Kippe in der Jackentasche verschwinden. Er sagte: »Die hat mir gerade noch gefehlt.«
Fred warf ihm einen verstohlenen Blick zu. »Tut mir leid. Ich hatte sie direkt an der Strippe. Ich habe außerdem mit dem Staatsanwalt in Aurich gesprochen, einem Dr. Verhoeven, er will sich auf den Weg machen, und …«
»Hatte Ben Lüderitz keinen Dienst?«, unterbrach ihn Tjark. Dr. Bernhard Lüderitz war der stellvertretende Leiter der Rechtsmedizin.
»Nein.«
Tjark verzog den Mund. Dann vergrub er die Hände in den Hosentaschen und ging über einige Holzbretter in Richtung Zelt. Die Bohlen waren von der Spusi ausgelegt und als Weg durch den Uferstreifen freigegeben worden. Sie endeten unter dem Pavillon, dessen Plane im Wind schlug und von einem Kollegen gerade neu befestigt wurde.
»Hallo, Fee«, sagte Tjark. Er hatte recht gehabt. Es war ein Dämonencover. Fee hatte immer ein Buch dabei, um sich die Zeit zu verkürzen, bis die Spurensicherung fertig war, was Stunden dauern konnte. Ihre Haare tanzten in der Luft wie eine schwarze Rauchfackel und bildeten einen scharfen Kontrast zu dem bauschigen Overall, in dem, wie er wusste, ein im Fitnesscenter und auf Spinning-Bikes gestählter Körper steckte. Ihre vollen Lippen erinnerten an Angelina Jolie. Das Piercing in der Augenbraue nicht.
Fee blickte vom Handy auf, sah Tjark ausdruckslos an und tippelte mit den kurz geschnittenen Fingernägeln auf dem Glasdisplay. »Hier bekommt man nicht mal eine Verbindung«, sagte sie.
Tjark zuckte mit den Achseln. Fee steckte das Telefon weg. »Ich dachte, du wärst auf Eis gelegt?«
»Bin ich auch«, antwortete er und dachte: dank deiner Gutachten. Nach den Anzeigen gegen Tjark waren die Beckers in der Rechtsmedizin amtsärztlich untersucht worden. Fee hatte bescheinigt, dass ihnen die Verletzungen vorsätzlich zugefügt worden sein mussten und nicht als Kollateralschäden bei Widerstand gegen die Verhaftung entstanden sein konnten. Tjark hielt dieses Fazit wiederum für einen Kollateralschaden wegen des Widerstands, den er gegenüber einer Reihe von Annäherungsversuchen gezeigt hatte. Sie waren darin gegipfelt, dass Fee mit offenem Ledermantel vor seiner Wohnung erschienen war, unter dem sie nichts trug außer ihrem Totenkopftattoo an der Hüfte. Tjark hatte ihr die Tür vor der Nase zugemacht. Das hatte sie ihm übelgenommen. Es gab keinen härteren Gegner als eine verletzte Frau. Fee hatte nach Tjarks Meinung nicht alle Tassen im Schrank. Er glaubte zudem, dass sie ihrem Job nicht zuletzt
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