Dünengrab
sie im ehemaligen Zimmer ihrer Tochter Feuer gelegt hatte. Sie lebte jetzt wohl in einem Pflegeheim bei Frankfurt – und der Vater ganz in ihrer Nähe in einer betreuten Wohneinrichtung. Danach war die Desire verkommen – bis Ruven sich um das Boot gekümmert und ein wahres Schmuckstück daraus gemacht hatte.
Femke wusste, wie eng an der Küste die Begriffe des Begehrens und Ersehnens mit der See und einem Schiff verbunden waren. Wer einmal selbst weit draußen auf dem Meer gewesen war und das große Nichts erlebt hatte, konnte verstehen, welche Ruhe und meditative Kraft in der Leere lag. Es war die große Freiheit. Niemand und nichts hielten einen auf. Man konnte einfach immer weitersegeln – ganz gleich, wohin. Alles war möglich. Als sie und Ruven noch ein Paar gewesen waren, waren sie oft mit der Desire unterwegs gewesen, manchmal tagelang. Dann hatte es nur sie beide gegeben – bis zu dem Zeitpunkt, an dem es sich mit dem Verlangen zwischen ihnen erledigt hatte, zumindest von Femkes Seite aus.
Ruven klapperte mit ein paar Tellern, als er die Reste des Essens unter Deck räumte, und Femke überlegte, wann genau dieser Zeitpunkt eingetreten war. Sie kannte Ruven seit ihrer Jugend. Genau genommen seit ihrem Reitunfall. Er war etwas älter als sie, nach einem Auslandsaufenthalt auf Gestüten in Osteuropa gerade zugezogen und hatte sich zunächst als Bereiter verdingt. Erst Jahre später waren sie zusammengekommen und inzwischen seit etwa drei Jahren wieder getrennt. Normalerweise hätten sie heiraten und Kinder bekommen sowie irgendwann das Hotel und die Ferienwohnungen ihres Vaters übernehmen müssen. Alle in Werlesiel hatten das erwartet. Aber jede Beziehung veränderte sich, und Femke hatte irgendwann das Gefühl gehabt, in der Vertrautheit zu ersticken. Also war es wohl dieser Zeitpunkt gewesen, dachte Femke, an dem sich die Wege gegabelt hatten – jener Zeitpunkt, an dem die Verliebtheit normalerweise zu etwas Tieferem wird. An die Stelle einer erwachsenen Liebe war Freundschaft getreten.
Jetzt kam er mit einer weiteren Flasche Rioja in den Händen und einer Decke unter dem Arm aus dem Bauch der Desire gekrochen. Abends konnte es mittlerweile empfindlich kalt werden, und Ruven wusste, dass Femke schnell fror. Er reichte ihr die Decke. Femke streckte ihr Gesicht mit einem Lächeln auf den Lippen und geschlossenen Augen der untergehenden Sonne entgegen, während sie hörte, dass Ruven sich neben sie setzte, Wein nachgoss und den Reißverschluss der blauen Fleecejacke mit dem Aufdruck seiner Security-Firma zuzog, zu der er eine helle Cargohose mit hochgekrempelten Beinen trug.
Femkes Lächeln legte sich, als sie daran dachte, dass Vikki Rickmers diesen Abend wohl nicht auf diese Weise genießen konnte – falls sie überhaupt noch lebte. Ihr schlechtes Gewissen klopfte in der Brust. Aber was sollte sie tun? Tjark würde sich melden, wenn er sie brauchte, und mehr als der Soko zuarbeiten und die Ermittler unterstützen konnte sie ohnehin nicht. Ganz abgesehen davon legte sich jetzt eine bleierne Müdigkeit auf ihre Schultern, und die kam nicht nur vom Wein. Die vergangenen Tage waren anstrengend gewesen, außerdem hatte sie letzte Nacht kaum geschlafen und immer wieder darüber nachgedacht, was es mit dem Friedhof am Küstenstreifen auf sich haben mochte. Irgendetwas sagte ihr das. Es wollte ihr nur partout nicht einfallen, was.
»Du bist müde«, sagte Ruven.
Femke winkte ab und öffnete die Augen. »Eine müde Polizistin ist sicher das geringste Problem, das wir im Augenblick im Ort haben.«
»Wenn du müde bist, sind deine Sinne nicht scharf, und du machst Fehler.« Ruven trank einen Schluck Wein und wischte einen verirrten Tropfen aus den Bartstoppeln.
»Herzlichen Dank.«
»Ich habe das nicht bös gemeint.«
Femke griff nach rechts und fasste nach seiner Hand, um sie mit einem Lächeln zu drücken. »Weiß ich. Und danke für das Essen. Das habe ich gebraucht.« Es war die reine Wahrheit. Gestern Nacht hatte sie es noch für keine gute Idee gehalten, auf die Einladung einzugehen. Jetzt sah das anders aus.
»Dafür hast du ja mich«, sagte Ruven und stieß mit seinem Glas an ihres.
Femke erzählte von ihren Sorgen um Justin. Sie befürchtete eine Hufrollenentzündung, die bei vielen Pferden der Anfang vom Ende war. Ruven bot ihr an, Volker anzurufen, einen Tierarzt, den er aus seiner aktiven Zeit als Bereiter kannte.
Er schenkte Rotwein nach und erzählte ihr, dass er in den kommenden Wochen
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