Duenne Haut - Kriminalroman
rauszukriegen, um Luft hineinzublasen. Blut, das aus ihrer Schläfe sprudelt, als hätte einer einen Brunnen geschlagen in sie, rotschwarz, schwarzrot. Blut und Morast, die sich vermengen. Wie Lähmung und Wut.
Später, viel später kam auch noch der Ekel hinzu. Der Ekel vor sich selbst.
Als sie schon aufgeben wollen, plötzlich ein Gurgeln. Ein Spucken. Das Ringen nach Atem.
Laub ist zurück.
Sie lagern ihn seitlich. Während Hagen sich um ihn kümmert, läuft Lucy um Hilfe. Der Strangulierte schlägt die Augen auf. „Wieso?“, scheinen sie zu fragen. „Wieso nur?“
15 E IN B RIEF
Herrn
Dr. Guido I. Westhäußer
Psychosomatische Fachklinik Sonnblick
Station B
Bad Krummau
Westhäußer dreht und wendet das großformatige Kuvert in seinen Händen. Kein Absender. Er beschnuppert das Papier, wie es seine Angewohnheit ist. Andere mögen das schrullig nennen; aber Briefe sind für den Arzt nun einmal mehr als nur ein Weg, Informationen zu übermitteln. Seit jeher eigentlich, wenn er so überlegt, oder zumindest seit Leo. Leo, seine erste große Liebe, war zugleich der Größte, was das versiegelte Wort anging. Er pflegte seine Briefe mit rotem Siegelwachs zu verschließen, und das Büttenpapier tränkte er, je nach Grundton der Botschaft, mit einem anderen Parfum. So erreichte die Quintessenz seiner Worte bereits den Adressaten, ehe der Brief gelesen war. Heute, im Zeitalter des Mails, bekommt Westhäußer keine parfümierten Seiten mehr. Aber sinnlich anregend findet er die selten gewordenen Briefe immer noch.
Sein Hobby ist es, die Handschrift zu interpretieren. Mittlerweile irrt er selten, was die geschlechtsspezifische Zuordnung angeht. Er gefällt sich als Amateurgraphologe und versucht, von Eigenarten im Schriftbild ausgehend auf den Charakter des Absenders zu schließen. Der verschnörkelte und gleichzeitig sehr regelmäßige Zug spricht eindeutig für eine Frauenhand. Und die auffällig großen Initialen und die lange Schleife des y könnte man als Ausdruck von überschäumender Lebensenergie, gepaart mit Unsicherheit, interpretieren. Er lächelt. Zugegeben, etwas gewagt, diese Deutung, und graphologisch betrachtet vermutlich nicht auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. Aber man ist ja nicht nur Wissenschafter.
Er greift nach dem elfenbeinernen Brieföffner, den er aus dem vorjährigen Kamerunurlaub mitgebracht hat, setzt ihn aber noch einmal ab. Etwas an der Adresse ist ungewohnt, sticht hervor: das große I zwischen seinem Vor- und Familiennamen. Dass es ihm nicht gleich aufgefallen ist! Er kann sich nicht daran erinnern, diese Initiale in letzter Zeit verwendet zu haben. Nur wenige Menschen in seinem Umfeld dürften überhaupt wissen, wofür das I steht: für Immanuel nämlich, jenen zweiten Vornamen, den ihm Mutter als dezentes Indiz für ihre jüdische Herkunft mitgab. Der auf seinem Taufschein eingetragen ist, aber sonst? Westhäußer schnappt sich das Telefonbuch und schlägt unter dem Buchstaben W, dann auch noch unter K wie Krankenhaus nach. Nirgends findet sich ein großes I vor Westhäußer. Wem gegenüber habe ich je davon gesprochen?, fragt er sich, kommt aber zu keinem Ergebnis. Was soll’s. Mit einem Ratsch durchschneidet er den beigen Umschlag und entnimmt ihm eine überdimensionierte Ansichtskarte. Das Motiv darauf ist Westhäußer vertraut: Es handelt sich um die Aufnahme der Klinik
Sonnblick
aus der Vogelperspektive, wie man sie in der Rezeption der Klinik bekommt.
Die Karte ist eng beschrieben, in einer sehr kleinen, gedrängten Schrift.
Sehr geehrter Dr. Westhäußer
, liest er. Die nächste Überraschung! Er hat sich etwas Persönlicheres erwartet.
Lieber Guido
etwa, oder
Hallo, alter Freund
. Aber schon die nächsten Worte erklären die förmliche Anrede.
Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich in dieser Form an Sie wende. Ich bin eine ehemalige Patientin von Ihnen, die es nur im Schutze der Anonymität wagt, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Als einziger Arzt des
Sonnblick
erscheinen Sie mir vertrauenswürdiggenug, Sie von einem Vorfall zu unterrichten, der mich in Ihrer Klinik betroffen hat und der mir seither sehr zu schaffen macht. Ich schätze Ihren Gerechtigkeitssinn und Ihre Loyalität gegenüber den Klienten, die Sie, meines Erachtens, sogar über diejenige zu Kollegen und Vorgesetzten stellen und erhoffe mir deshalb von Ihnen Hilfe und Unterstützung. Außerdem weiß ich, dass Sie, was Frauen anbelangt, gänzlich unverdächtig sind. Deshalb möchte ich Sie
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