Duenne Haut - Kriminalroman
Sekunden lang, als gälte es, ihre Konsistenz zu prüfen. Laub hüstelt, dann zieht er die Hand wieder zurück. „Ein probates Mittel gegen die Impertinenz, o ja! Und es verfehlte nie seine Wirkung. Bis …“
„Bis dich jemand angezeigt hat, nicht wahr? Bis sie dir das Handwerk legten.“
„Denunziation“, flüstert Laub, „es war miese Denunziation! Mit einem einzigen anonymen Brief an die Schulbehörde können sie dir ein ganzes Lehrerleben zerstören. Da fragt keiner mehr, was du jahrzehntelang geleistet hast. Du bist gebrandmarkt für alle Zeiten, ein Aussätziger an der eigenen Schule! Ich wünschte, es wäre endlich vorüber.“
Prader hat sich aus seinem Fersensitz gelöst und vor Laub aufgerichtet. „Weißt du, was ich glaube, Laub? Ich glaube, Leute wie du, die wünschen sich ihr ganzes Leben lang nichts so sehr wie einen schönen Nachruf. Einmal nur eine wirkliche Würdigung meines Wesens! Einmal nur uneingeschränkt im Mittelpunkt stehen, und sei es drei Meter unter der Erde! Ich wette, du hast ihn sogar schon aufgesetzt, deinen eigenen Nachruf, und bei einem Notar hinterlegt.“
Laub sieht Prader an, als stünde der Leibhaftige selbst vor ihm. Kein Wort kommt ihm über die blauen Lippen. Aber der Kabarettist kennt keine Gnade, gießt noch Säure nach.
„Ein grandioser Nachruf sicher, allumfassend. Wer außer dir brächte diese Würdigung auch zustande? Wer sonst wüsste über dich, den ewig Verkannten und wegen einer Lappalie Geächteten, solch We-sent-li-ches“ – Prader setzt die einzelnen Silben affektiert voneinander ab – „ zu berichten. Wenigstens am offenen Grabe sollen sie erfahren, was sie an dir so sträflich übersehen haben. Ja, du möchtest alle mit diesem Nachruf dafür bestrafen, dass sie deine Größe nicht wahrnahmen und dich abtaten als – ihresgleichen. Denn das tun die Menschen doch immer, nicht wahr: den anderen als gleich gestrickt betrachten, gleich mies, gleich beschränkt, oder gar als minderwertiger und mickriger noch als man selbst. Und so hast du jenen Nachruf verfasst, in dem du endlich als der gewürdigt wirst, der du hättest sein sollen, sein müssen in den Augen deiner Freunde, Verwandten, Kinder und Kollegen.“
„Ernst“, ruft Dr. Mickl, „reißen Sie sich zusammen! Wir sind hier nicht im Gerichtssaal.“
Auch Hagen spürt, dass das ursprünglich interessante Wortgefecht zu eskalieren droht. So, wie Prader sich heute benimmt, möchte man ihn nicht zum Feind haben. Vielleicht ist seine Gereiztheit ja auf den Kater zurückzuführen, den er von ihrer gestrigen Sauferei mitgebracht hat? Oder den Wiener hat in diesem dramatischen Setting einfach wieder das Bühnenfieber gepackt, was bei einem Wortkünstler wie ihm schnell einmal überzogene Schärfe provoziert. Andererseits: Grundsätzlich falsch erscheinen seine Vorwürfe trotz aller Härte nicht. Und fordert sie die Therapeutin nicht ständig auf, sich
mit allen Anteilen
der Wahrheit zu stellen?
Aber Prader denkt ohnehin nicht daran, sich von der Frau in Weiß einbremsen zu lassen.
„Stell dir vor, Wolfgang, andere kennen die Ungerechtigkeit des Lebens genauso, du bist nicht der Einzige, der leidet! Aber stell dir auch einmal eine winzige Sekunde lang vor, was passieren würde, wenn sich unsere ganze Gemeinschaft hier gleich wehleidig verhielte wie du. Wenn jeder sich als den Nabel der Welt betrachtete …“
Weiter kommt er nicht, denn Wolfgang Laub springt unter Gebrüll auf, stakst zur Tür und reißt dort sein Hemd auf, als ob er zu wenig Luft bekäme. Die hervorquellenden grauen Brusthaare dokumentieren, was ohnehin längst alle vermutet haben: dass Laub sich das Kopfhaar färbt.
„Gemeinschaft“, schreit er, „Gemeinschaft! Dann stammt das Wort aber von gemein ab, von hundsgemein. Ach, ihr könnt mich alle mal!“
Die Tür fliegt krachend ins Schloss. Zwölf Augenpaare glotzen in Richtung Ausgang. Verunsichert oder schockiert die einen, achselzuckend jene Abgebrühteren, die schon öfters einem derartigen Eklat beigewohnt haben. Eine stickige Stille liegt über dem Sitzkreis. Rosi erträgt sie nicht lange.
„Mia kennen eahm doch net so einfach geh lassn, i hol ihn zruck!“
„Besser nicht“, meint Dr. Mickl. „Respektieren wir seine Entscheidung. Ich glaube nicht, dass er sich jetzt umstimmen lässt.“
Sie versucht, Prader mit ihrem Blick zu fixieren, doch der weicht ihr aus, schaut wie ein Unbeteiligter in Richtung Fenster. Dr. Mickl muss einsehen, dass die Luft draußen ist
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