Duerers Haende
Heinrichs Hoheitsgebiet lag, vorgedrungen war, zog sie sich sofort daraus zurück.
»Dann kann ich ja gleich an Ufos und grüne Männchen vom Mars glauben«, sagte sie halblaut und ging zu ihrem Wagen zurück. Ihr war auf einmal kalt, und sie spürte ihren Hunger. Den Bereitschaftsdienst dieses Donnerstags, der unter anderem strikte Alkoholabstinenz erforderte, erklärte sie hiermit vorzeitig für beendet. Zu sehr freute sie sich auf ihre Wohnung und den Blick vom Küchenfenster, auf ein warmes Essen und – auf ihren Weinvorrat.
Am Vestnertorgraben angelangt, marschierte sie zielsicher in den Keller. Heute wollte sie das Wagnis eingehen und einen ihr bis dahin völlig unbekannten Wein verkosten. Einen Côtes du Jura a.c. Cuvée de Garde von 2005 aus dem Château Chalon, dessen »kraftvollen Körper«, »extreme Heftigkeit« und »zeitlose Eleganz« die Fachzeitschriften überschwänglich lobten.
Nachdem sie die Flasche mit dem für ihren Geschmack viel zu modernen Etikett entkorkt und von dem Wein ein halbes Glas geleert hatte, stellte sie sich an die Spüle. Wusch und schnitt die grünen Bohnen, die aus dem Vorgarten ihrer Mutter stammten und garantiert jedes noch so strenge biodynamische Unbedenklichkeitszertifikat verdient hätten, in kleine Rauten. Schälte Kartoffeln und eine Zwiebel, briet Speckwürfel kross und fügte dann, nachdem es in der Küche so ungemein behaglich nach altmodischem Familienessen roch, das klein geschnittene Gemüse dazu. Die Wartezeit von einer halben Stunde vertrieb sie sich mit dem ersten Gang, der ausgiebigen Weinverkostung. Ein wirklich phantastischer Savagnin, auch wenn er für ihren Geschmack mehr heftig als zeitlos schmeckte. Um der wachsenden Gemütlichkeit die Krone aufzusetzen, stellte sie sich noch kurz unter die Dusche und zog anschließend den Schlafanzug an, darüber den alten moosgrünen Bademantel, ein Erbstück ihres Vaters. Dieser Bademantel war für sie die stilvollste und zugleich bequemste Art, das Zu-Hause-Sein zu zelebrieren.
Nach dem Hauptgang, dem Bohneneintopf, folgte das übliche Dessert. Der Blick aus dem Küchenfenster. In der Dämmerung und nach dem Dauerregen der letzten Tage glich die Kaiserstallung mit ihren winzigen matt glänzenden Fensteröffnungen an diesem frühen Donnerstagabend einem reich mit Edelsteinen verzierten Tabernakel. Noch bevor sie sich ganz und gar satt gesehen hatte, riss sie ein dreimaliges Klingeln – kurz, kurz, lang – aus ihrem Dessert. Herrschaftszeiten, das war Paul, den hatte sie ganz vergessen. Sie sah an sich herunter, an ihrem Bademantel, unter dem unten die nackten Füße hervorlugten, dann auf den leeren Teller, das halb volle Glas. Zu spät, um diese Vergesslichkeit einigermaßen glaubwürdig zu kaschieren. Da half nur die Flucht nach vorn – die Wahrheit. Wieder dieses fordernde Klingeln. Sie ging in die Diele und drückte auf den Türöffner.
Als er zwei Minuten später vor der Wohnungstür stand, küsste er sie achtlos auf die linke Wange und schob sie sanft zur Seite. Er eilte in ihr Wohnzimmer, griff nach der Fernbedienung und ließ sich entspannt auf das Sofa fallen. Langsam schloss sie die Wohnungstür und stellte sich in den Rahmen der Wohnzimmertür. Starrte wortlos auf ihren späten Gast, der in der Zwischenzeit die Schuhe abgestreift und die Füße auf dem Couchtisch deponiert hatte und jetzt gebannt auf den Bildschirm mit dem leuchtenden grünen Rasen schaute. Eine Flucht nach vorn war hier überflüssig.
»Paula, ich weiß, ich bin spät dran. Aber die in Kalimünz haben mich nicht eher fortgelassen.«
»Ich hab gedacht, die Bundesliga fängt erst ganz spät im September an.«
»Das ist kein Bundesliga-Spiel, das ist Champions League. Da geht es um was. Knock-out-Verfahren, hopp oder top. Ich will auch nur kurz reinschauen, dann bin ich ganz für dich da.«
»Möchtest du einen Bohneneintopf? Einen Teller voll hätte ich noch.«
»Nein danke. Bei meiner Schwester gab es heute einen Schweinsbraten mit selber geriebenen Erdäpfelknödeln. Einfach saugut.«
»Ich dachte, du isst kein Fleisch.«
»Ja, normalerweise nicht. Aber heute war mein Tag der Sünde. So, und jetzt bitte, Paula, jetzt brauch ich mal für eine Weile meine Ruhe.«
Sie trabte in die Küche zurück, holte tief Luft und konzentrierte sich auf ihr Allheilmittel gegen aufkommende schlechte Laune. Doch die Burg versagte ihr heute die heilende Wirkung. Sie setzte sich an den Küchentisch und spielte an ihrem Weinglas
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