Duerers Haende
Onkels? Wo war er selbst zur Tatzeit?«
Eva Brunner sah sie enttäuscht an. Damit hatte die Hauptkommissarin sie um ihr sorgfältig vorbereitetes detailreiches Referat zu den Beerdigungsritualen des Islam in Vergangenheit und Gegenwart gebracht. Sie überflog ihre Notizen und blätterte bedauernd eine Blockseite nach der anderen um.
»Feinde hatte sein Onkel seines Wissens keine. Darüber haben sie nie gesprochen. Über Freundschaften auch nicht. Wenn sich die Familie getroffen hat, dann ging es ausschließlich um familiäre Dinge.«
Erneutes Blättern. Und bei jeder Seite, die nach hinten umgeschlagen wurde, fühlte Paula Steiner, wie eine kleine Last von ihr genommen wurde. Sie sah zu Heinrich, dem es ähnlich zu gehen schien. Er starrte auf Brunners Block und begleitete das langsame Blättern mit einem auffordernden Nicken: Weiter, weiter!
»Ach ja, das ist vielleicht noch wichtig: Worüber Eshaya oft mit seinem Onkel gesprochen hat, war die Arbeit bei der Spedition. Shengali war anfangs so froh, diesen Arbeitsplatz bekommen zu haben. Weil die relativ gut zahlten und er seine Familie jetzt endlich auf anständige Art und Weise ernähren konnte. So hat er sich ausgedrückt. Mit richtiger Arbeit, also nicht mehr mit staatlicher Hilfe über das Arbeits- oder Sozialamt. Das war ihm wohl sehr wichtig. Froh war er auch deswegen, weil ihm das Fahren selbst Spaß machte. Er hat sich da richtig engagiert und teilweise Überstunden angehängt, ohne sie sich auszahlen zu lassen, da musste alles andere zurückstehen. Auch die Familie. Doch als sie, also Shengali und Herr Eshaya, das letzte Mal miteinander telefoniert haben, hatte Shengali erzählt, dass er gekündigt werden sollte. Er hätte zwar in der Spedition weiterarbeiten können, aber erst nach einer sehr langen Pause. So richtig hat Herr Eshaya das am Telefon damals nicht verstanden. Und auch nicht nachgefragt.«
Paula Steiner griff zu dem Zettelkasten auf Heinrichs Schreibtisch und notierte sich »Shengali/Arbeit – lange Pause?«.
»Und wo war Eshaya zur Tatzeit?«
»Er sagt, in seinem Bett. Er ist Mathelehrer in München und verdient sich sein Geld, indem er Hauptschüler auf den Quali-Abschluss vorbereitet. Eine anstrengende Arbeit, weil er bei seinen Schülern als Ausländer nicht immer vorbehaltlos akzeptiert wird; das muss mitunter richtig schlimm sein. Zeugen dafür, also für sein Alibi, die das bestätigen könnten, hat er allerdings keine. Er ist ledig, und er hat auch keine Freundin.« Bei diesem Unterpunkt des Referats strich ein warmes Lächeln über das runde Gesicht mit dem makellosen Teint. »Und wie ich Herrn Eshaya kennengelernt habe, stimmt diese Aussage. Denn ich hatte den Eindruck, Herr Eshaya ist ein aufrichtiger, hochanständiger …«
»Gut, danke, Frau Brunner. Ihre erste Befragung haben Sie nun hinter sich. Sie haben das ganz ausgezeichnet gemacht. Nur ein kleiner Tipp von mir: Warten Sie mit Ihren persönlichen Einschätzungen so lange, bis der Fall abgeschlossen ist. Nicht immer stimmt unser erster Eindruck. Das trifft sowohl im Guten wie im Schlechten zu.«
Sie wusste, wovon sie sprach. Oft genug hatte sie sich bei den Menschen, mit denen sie beruflich zu tun gehabt hatte, grundlegend getäuscht. »Was hat die Befragung der Anwohner erbracht?«
»Die hat leider nichts ergeben, fast nichts. Nur ein Rentner, aber der war schon weit über die siebzig, sagte aus, am Montagabend einen silbergrauen Wagen gesehen zu haben, wusste aber weder die Automarke noch das Kennzeichen. Er meinte, das Ding – so hat er sich ausgedrückt – war flach wie eine Flunder, leuchtend grau wie auf Hochglanz polierter Edelstahl und sicher einer dieser Schlitten, die genauso unzuverlässig wie sündhaft teuer sind. Etwas zum Angeben bei den Frauen, meinte der Mann. Der wohnt direkt neben dem Wasserwerk und hat einen sehr schlechten Schlaf. Außerdem regt ihn das auf, wenn die Leute einfach auf der Wasserwerkausfahrt halten oder wenden, weil dann die ganzen Abgase in sein Schlafzimmer ziehen würden. Aber richtig vertrauenswürdig hat der nicht ausgesehen. Der hatte zum Zeitpunkt meiner Befragung schon eine Bierfahne. Und da war es erst halb vier Uhr nachmittags!«
»Auch das gehört zum Thema unbedingte Neutralität bei der persönlichen Beurteilung. So, Frau Brunner, dann nochmals: Danke für Ihren Einsatz. Sie haben alles richtig gemacht. Und dieses Lob zählt doppelt, weil Sie ja bei all dem auf sich allein gestellt waren. Wenn ich Sie noch um etwas
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