Duerers Haende
»Das ist ja hochinteressant, was du alles herausgefunden hast. Und das in so kurzer Zeit.«
Sie blickte auf Eva Brunner, die ihren Kollegen bewundernd und mit offenem Mund anstarrte. Erst da, bei diesem fassungslosen Blick voller Hochachtung, gewann ihre Spottlust die Oberhand und machte sich sogleich in zwei, zugegeben, gehässigen, aber letztendlich aus pädagogischen Gründen gestellten Fragen Luft: »Aber hast du bei all deinen geheimnisvollen historischen Verbindungen nicht eine entscheidende vergessen? Und zwar die zwischen Theologie und Kunstgeschichte?«
»Hä? Wieso?«
»Aber Heinrich, das liegt doch nun wirklich auf der Hand. Stehen die zum Gebet gefalteten Hände«, sie gab sich Mühe, nicht allzu ironisch zu klingen, »denn nicht auch für den ersten Teil der klerikalen Aufforderung ›Ora et labora‹? Das würde doch sehr gut in deine Mittlertheorie passen; der Mörder als Herr über Leben und Tod sorgt für das Seelenheil des Toten, indem er ihn mit betenden Händen dem Himmel übergibt.« Um Heinrich dabei nicht anschauen zu müssen, kritzelte sie auf den vor ihr liegenden Zettel »Bete und arbeite!«.
Zu ihrem Erstaunen applaudierte Heinrich ihrer Spinnerei. »Ganz genau, so ist es.« Er klang ernst. »Diesen Aspekt hätte ich schon noch erwähnt, aber ich sollte mich ja kurz halten.«
Auch bei Eva Brunner lief ihr gut gemeinter pädagogischer Ansatz ins Leere. Die Anwärterin rief begeistert aus: »Toll, worauf Sie alles kommen! Mir wäre das nicht eingefallen. Ein Ritualmord! Eine Tat voller Mythen und geheimnisvoller Andeutungen. Und wenn wir diese richtig deuten, dann haben wir den Code des Mörders geknackt. Also brauchen wir erst gar nicht nach einem Motiv zu suchen, weil diese Psychopathen ja ohne Motiv morden, nur aus der blanken Mordlust heraus.«
Jetzt musste sie augenblicklich die Handbremse ziehen, bevor Heinrichs plus ihre eigenen Hirngespinste neue, noch absurdere und peinlichere zu gebären drohten. »Quatsch. Das war kein Ritualmord.«
Jedes Verbrechen folgte einem Schema, einer Art Planmäßigkeit oder Vernunft, das wusste sie aus langjähriger Erfahrung. Diese Planmäßigkeit galt es zu finden. Nicht irgendwelche Mythen zu ergründen oder an Signaturen herumzudeuteln.
»Das war nicht die Tat eines Wahnsinnigen. Auf der anderen Seite haben Sie schon recht, Frau Brunner: Wir müssen den Code des Mörders knacken. Aber nicht über Mythen, Andeutungen oder Symbole, die nichts oder nur am Rande mit dem Fall zu tun haben. Sondern mit der Motivsuche. Und zwar der Suche nach einem ganz handfesten Motiv. Das fehlt uns nach wie vor. Außerdem fehlt es uns nach wie vor an einer Spur, die wir verfolgen könnten. Oder haben der Herr Professor Kunsthistoriker beziehungsweise die Frau Doktor der Psychiatrie dazu schon eine Idee?«
Heinrich und Eva Brunner schüttelten beleidigt den Kopf.
»Gut, dann fasse ich mal zusammen, was Herr Bartels und ich gestern bei der Arbeitsagentur erfahren haben.«
Es folgte der erste kurze Bericht dieses frühen Vormittags. Und darin war ausschließlich die Rede von greifbaren, plumpen, ja fast schon ordinären Dingen. Dingen wie dem aus eigener Tasche bezahlten Kraftfahrerführerschein und dem vielen Geld, das es heute mitunter kosten konnte, um jemanden in Arbeit zu bringen. Als sie geendet hatte, sahen ihre beiden Mitarbeiter sie ein wenig vorwurfsvoll an. Doch das ließ sie kalt. Denn sie hatte mittlerweile eine Entdeckung gemacht. Auf ihrem kleinen gelben Zettel standen nun drei Punkte: »1. Shengali/Arbeit – lange Pause? 2. Bete und arbeite! 3. 28.000 Euro für zwei Arbeitslose«.
Dreimal dasselbe Wort – noch war die Ermittlung keinen Zentimeter vorangekommen, der Code noch nicht geknackt, ein Motiv oder eine Spur nicht greifbar, doch der schwache Abglanz eines Musters wurde langsam erkennbar.
Auf diesem winzigen gelben Notizzettel mit den handschriftlichen Kritzeleien steckte, dessen war sie sicher, die entscheidende Erkenntnis zum Fall Shengali. Das Motiv, die erste Spur und damit auch die Wahrheit. Nun war es an der Zeit, die Sensoren auszufahren und zu handeln.
»Herr Eshaya hat Ihnen doch erzählt, dass seinem Onkel gekündigt werden sollte, wenn auch nur vorübergehend. Ein Kraftfahrer, der von seinem Chef über den grünen Klee gelobt wird, der unbezahlte Überstunden macht, der offensichtlich Spaß an der Arbeit hat, der wird entlassen? Wir müssen herauskriegen, warum. Wir versuchen es als Erstes bei der Spedition. Als Zweites
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