Duerers Haende
also die bläuliche Verfärbung der Lippen, das aufgedunsene Gesicht mit den hyperämischen Partien, das sind die typischen postmortalen Anzeichen für diese Todesart. Sonst kann ich nicht viel sagen im Moment, dazu ist eine Obduktion erforderlich. Als Todeszeitpunkt würde ich auf gestern Abend zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr tippen. Aber wenn ich Sie noch auf ein Detail, vielleicht ein entscheidendes, aufmerksam machen darf: Der Ermordete hat sich gewehrt. Nicht mit Händen und Füßen. Mit dem Mund. Er muss den Täter gebissen haben. Hier«, Dr. Grath deutete mit der weiß behandschuhten rechten Hand auf Kramers Unterkiefer, »sehen Sie dieses Hautstück?« Dann schwieg er.
Nanu, heute kein Fachvortrag in verklausulierter medizinischer Terminologie, sondern eine einfache, auch für Laien sofort verständliche und kurze Diagnose. Und das alles in einem geradezu freundlichen, fast schon entgegenkommenden Ton. Sie registrierte, wie Heinrich, der Fotograf und auch Klaus Dennerlein in ihrer Arbeit innehielten. So als ob sie darauf warteten, dass das Unvermeidliche doch noch folgen würde. Es folgte aber nicht.
Sie ahnte den Grund für Graths Sinneswandel. Er war sicher in Trommens Antrag zu suchen, die Nürnberger Gerichtsmedizin künftig außen vor zu lassen. So hatte das »Quadratarschloch« doch noch etwas Hilfreiches bewirkt. Über Umwege zwar und ohne dass er das wollen konnte, aber auch hier zählte nur das Ergebnis. Und das war eindeutig positiv.
»Nein«, antwortete sie, »leider nicht, Dr. Grath. Ich sehe keinen Hautfetzen. Aber vielleicht muss man dafür das scharfe Auge eines Pathologen haben, das mir als einfacher Polizistin fehlt.« Diese Schmeichelei war ihre Art, sich bei dem Mediziner für sein heutiges zurückhaltendes Auftreten zu bedanken.
Grath hielt ihr eine Lupe hin. »Bitte. Vom rechten Eckzahn hängt ein fast weißes Fitzelchen herab. Das ist kein Speiserest, das ist ein Stück Haut.«
Jetzt sah sie es auch. »Und von welchem Körperteil könnte das stammen, was meinen Sie?«
»Ich möchte mich hier und jetzt nicht gern festlegen …«
»Das verstehe ich. Aber Sie kennen ja meine Ungeduld, Herr Dr. Grath.« Sie lächelte ihn an. »Nur eine Vermutung Ihrerseits. Ich vergesse sie auch gleich wieder.«
Verschwörerisch beugte er sich zu ihr herab und flüsterte ihr zu: »Ich denke, dieses Hautstück stammt vom Arm oder aus dem Gesicht des Täters, vielleicht das Ohrläppchen. Das Opfer hat sich gewehrt, und bei dieser Todesart, würde ich sagen, liegen diese drei Partien nahe. Doch, wie gesagt, das sind nur Vermutungen.«
Sie lächelte ihn wieder an. »Ach, Sie haben jetzt was gesagt. Ich habe leider gar nichts verstanden, akustisch verstanden, meine ich.«
Sie kannte Grath nun seit zwanzig Jahren. Doch heute zeigte er ihr zum ersten Mal ein Mienenspiel, das er, nicht nur vor ihr, all diese zwanzig Jahre geheim gehalten hatte: ein Lächeln – oder besser: die Andeutung eines Lächelns. Es veränderte den steifen, arroganten Klugscheißer schlagartig. Hinter diesem feinen Schmunzeln trat ein freundlicher, intelligenter, ja, fast schon liebenswerter Mann zutage. Er sollte öfter lächeln. Es würde seinem Ego guttun. Und seiner Umwelt auch.
»Würde denn dieses Hautfitzelchen ausreichen, um …« Sie hatte zwar schon seltenlange Berichte über DNS-Vergleiche mehr überflogen als gelesen, die als Beweismittel dienten. Aber sie verstand weder, wie das alles vor sich ging, noch interessierte sie diese Art der Beweisführung. Sie wusste, es funktionierte, und man konnte damit Personen eindeutig identifizieren. Für alles Übrige gab es die Rechtsmediziner.
»Ja«, bestätigte Grath, »wenn Sie mir einen Verdächtigen bringen, kann ich ihn diesem Stück Haut eindeutig zuordnen oder ihn ausschließen.«
»Eine Bitte habe ich noch. Was steckt in seiner rechten Hosentasche? Könnten Sie das für mich herausziehen?«
Wortlos griff Grath in Kramers leicht gebeulte Tasche und zog einen Geldbeutel, er schien aus echtem Krokoleder zu sein, vorsichtig an einer Ecke heraus. Dann noch einen Schlüssel mit einem großen Anhänger aus massivem Silber, der ein modernes Kreuz darstellte.
»Braucht ihr den?«, fragte sie Klaus, der sich zu ihnen gesellt hatte. Er nickte, steckte beide Fundstücke in einen Plastikbeutel und verstaute ihn in seinem Metallkoffer.
»Darf ich den Anhänger noch mal sehen?«
Bereitwillig öffnete Dennerlein seinen Metallkoffer und hielt ihr die Plastiktasche
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