Duestere Verlockung
möglich. „Haben eben ein wenig abgehangen, geredet und dann ist jeder seines Weges gegangen.“
„Ernsthaft? Nichts ist passiert? Kein Rumknutschen, kein Sex?“ Rachels Enttäuschung ist kaum überhörbar. Na gut, etwas kann ich ihr ja geben.
„Er hat mich geküsst.“ Sage ich achselzuckend als wäre das nichts Weltbewegendes.
„Wirklich? Das ist ja super! Wie geht es weiter? Seht ihr euch wieder? Hat er sich gemeldet? Bist du verknallt?“
Ich fühle mich wie in der neunten Klasse. Gleich fragt sie noch, ob er mir einen „Willst du mit mir gehen“-Liebesbrief geschickt hat. Zu viele Fragen.
„Rachel, das ist alles wirklich nichts Besonderes. Ich erzähle dir alles, sobald es etwas zu erzählen gibt. Und jetzt gerade hab ich absolut keine Zeit. Ich muss in einer Stunde bei meinem Interview in der Lower East Side sein und du weisst, wie voll die Metro um diese Zeit ist.“
Rachel nickt, ihr ist die Enttäuschung über meine Verschwiegenheit ins Gesicht geschrieben. Langsam erhebt sie sich und geht Richtung Tür.
„Na gut. Aber erzähl mir wirklich alles, sobald du kannst. Viel Glück bei dem Interview, Süße.“
Sie wirft mir einen Handkuss zu und schon ist sie verschwunden. Und ich muss wirklich los.
KAPITEL 12
„Aufgrund Ihres Namens war mir nicht bewusst, dass Sie Engländerin sind. Ich habe angenommen, Sie sind Amerikanerin und besitzen bereits ein Visum.“
Mitleidig sieht mich der Personalleiter des Unternehmens, bei dem ich mich vorstelle, durch seine dicken Brillengläser an und schliesst meine Bewerbungsmappe. Das soll wohl ein Witz sein. Genau deswegen schreibe ich seit einiger Zeit meine Nationalität in meinen Lebenslauf, obwohl das in den USA alles andere als üblich ist. Genau solche Missverständnisse wollte ich vermeiden, was ganz offensichtlich nicht zu funktionieren scheint. Ich muss mich wirklich zusammenreissen, um mein aufgesetztes Lächeln nicht einem bösen „Ich will dich mit meinem Blick töten“-Gesicht weichen zu lassen. Die Wut und Enttäuschung jedoch sprudelt in meinem Bauch und am liebsten würde ich den Kaffee, der noch immer dampfend vor mir steht, dem dämlichen Personalleiter ins Gesicht schütten. Für einen Moment überlege ich, ihn zumindest wissen zu lassen, was ich von der ganzen Sache halte. Doch im Endeffekt würde das sowieso nichts bringen, also lasse ich es, grinse ihn mit meinem gefrorenen Lächeln an, bedanke mich, stehe auf und verlasse das Büro. Als ich durch die verlassenen Gänge des Gebäudes laufe, merke ich, wie langsam die Tränen in meinen Augen aufsteigen. Reiss dich zusammen, Emily. Sei keine Heulsuse. Verdammt. Ich wische mir immer wieder mit dem Handrücken über die Augen, irgendwie kann ich es nicht stoppen. Hoffentlich kommt nicht auf einmal jemand aus einem der Büros, an denen ich vorbeigehe, das wäre echt peinlich. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie furchtbar lang dieser Gang überhaupt ist. Auf dem Weg in das Büro des Personalleiters war ich vom Selbigen begleitet worden, sein durchgängiger Smalltalk kombiniert mit meiner Nervösität hatte dafür gesorgt, dass ich das Bürogebäude nicht einmal wirklich wahrgenommen hatte. Jetzt passiere ich links und rechts ein Büro nach dem anderen, keine Ahnung wie viele es schon waren. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Bereits nach 18 Uhr. Viele Leute dürften gerade sowieso nicht mehr arbeiten. Es kann also keiner meine Tränen sehen. Auf einmal klingelt mein Handy. Unbekannte Nummer.
„Hallo?“
„Büro 204. Geh dorthin.“
„Was? Mit wem spreche ich?“
„Tu es einfach.“
Ich höre ein Klicken und schon ist die Verbindung unterbrochen. Verwirrt bleibe ich stehen. Was oder wer zur Hölle war das? Jemand aus dem Unternehmen, der sich einen Scherz mit mir erlaubt? Jemand, den ich kenne? Ich blicke mich um. Direkt neben mir ist Büro 208. Ich drehe mich ein wenig weiter und sehe Büro 204 in wenigen Metern Entfernung, eines der Büros an denen ich bereits vorbei gelaufen bin. Für einen Moment überlege ich, ob ich einfach weitergehen oder ob ich einen Blick in Büro 204 werfen soll. Natürlich gewinnt meine Neugier. Eine Welle der Nervösität schwappt in mir über, als ich auf die Tür zugehe. Ich greife nach der Türklinke, drücke sie langsam herunter und öffne die Tür so leise wie möglich. Vor mir eröffnet sich ein ungefähr fünf mal fünf Quadratmeter großer Raum mit
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