Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
auf.
Als ich die Vorhänge auseinanderzog, überflutete mich warmer Sonnenschein. Ich öffnete das Fenster und ließ das Trillern der Vögel und den berauschend warmen Wind herein. Der See glitzerte. Es war, als läge die ganze Welt vor mir, und sie war wirklich schön und winkte mir zu, ich solle in sie zurückkehren.
Ich lebte.
Ich holte tief Atem. In diesen letzten Wochen während Konrads Krankheit war mein Kopf – im wachen wie im träumenden Zustand – mit Schreckensbildern, Spinnweben und Dunkelheit angefüllt gewesen. Ich wollte, dass die Sonne das alles wegbrannte.
Und ich musste mich einfach fragen …
Vielleicht hatten Konrad und Elizabeth ja recht, und es wäre am besten, mit unserer gefährlichen und ungewissen Suche aufzuhören.
Soweit überhaupt möglich, war das Schloss ein angenehmes und geräumiges Gefängnis, doch es blieb immer noch ein Gefängnis. Der See und die Wiesen, die wir unser ganzes Leben lang als selbstverständlich angesehen hatten, schienen uns nun mit qualvoller Intensität zu locken, wenn wir aus den Fenstern und von den Balkonen schauten.
Vater war kein sadistischer Kerkermeister. Obwohl er sich weigerte – trotz meiner besten Argumente –, unsere Strafe auf fünf Tage zu verkürzen, versuchte er uns die Zeit zu vertreiben mit unterhaltsamen Geschichten über weit entfernte Länder und blutrünstigen Schilderungen berühmter Schlachten, die wir früher immer so gerne gehört hatten. Er teilte uns die Neuigkeiten mit, die er von jenseits der Grenze erhielt, wo Frankreich im Griff der Revolution bebte. Eine ganze neue Welt wurde jenseits der Berge geschmiedet – doch innerhalb der Mauern von Schloss Frankenstein änderte sich nichts.
Irgendetwas hatte er mit der Geheimtür der Bibliothek gemacht. Sie war nicht mehr zu öffnen. Ganz eindeutig traute er unseren Versprechen nicht mehr.
Und Mutter war glücklich. Sie hielt Konrad für geheilt und sie hatte alle ihre Kinder Tag und Nacht unter ihrem Dach.
12. Kapitel
Der Hüter der Geheimnisse
W enige Nächte später wachte ich von einem Traum auf, der so schrecklich war, dass er noch immer düster um mich waberte, als ich längst schon heftig keuchend aufrecht im Bett saß.
Konrad war tot und lag in seinem Sarg aufgebahrt. Seine Haut hatte schon die Färbung des körperlichen Zerfalls angenommen. Ich stand hinter seinem Kopf und blickte auf ihn hinunter. Hinter mir konnte ich meine Familie weinen hören. Eine gewaltige Wut stieg in mir auf.
Und plötzlich war der Sarg kein Sarg mehr, sondern ein Labortisch.
Über Konrads Körper gebeugt sprach ich beschwörende Gedanken und Worte, strich Salben auf und befestigte seltsame Geräte an seinen Armen und Beinen, seiner Brust und an seinem Kopf.
Und dann stieß ich einen gewaltigen Schrei aus, Energie brach aus meinem Inneren hervor und spannte sich wie ein Blitz von meinem Körper zu seinem.
Seine Hand zuckte. Sein Kopf bewegte sich. Seine Augen gingen auf und blickten mich an.
Ich zündete eine Kerze an und ging im Zimmer auf und ab. Nach einer solchen Vision war an Schlaf nicht mehr zu denken. Was hatte sie zu bedeuten? Ich glaubte nicht an Vorzeichen, doch die Eindringlichkeit des Traums war schwer zu ignorieren.
Würde Konrad krank werden und sterben, wenn wir nicht … wenn wir nicht wieder in Aktion traten? Lag es in meiner Macht, ihn zu retten?
Ruhelos ging ich zu meinem Tisch und zog aus einem Geheimfach Eisensteins dünnes grünes Buch hervor. Vater hielt jegliche Alchemie für Unsinn, obwohl zumindest etwas davon funktionierte. Durch sie hatte ich den Wolfsblick bekommen und ein Feuer ohne Flamme, um der Tiefe zu entkommen. Sie hatte Polidori geholfen, den Text eines verbrannten Folianten wiederherzustellen, und Krake übernatürlich intelligent gemacht.
Warum sollte dieselbe Quelle nicht auch ein Elixier des Lebens hervorbringen?
Ziellos blätterte ich durch das Buch und las die Überschriften. Sie wirkten gar nicht so anders als die Naturwissenschaften, die uns Vater bei seinem Unterricht beibrachte …
Ich hielt inne.
Über einer Seite stand: Umwandlung gemeiner Metalle in Gold . Es war nicht der Glanz dieses Versprechens, der meine Aufmerksamkeit erregte, es waren die handschrift-lichen Notizen auf dem Seitenrand. Das war unverwechselbar und eindeutig die Handschrift meines Vaters.
Ich packte das Buch fester und mein Blick flog über seine Berechnungen, seine detaillierten Anmerkungen zum Ablauf der Prozedur.
Lügner . Der Mann, den ich mein ganzes
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