Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
hatte, dann band ich das Pferd an und rannte zwischen den Grabsteinen hindurch zur Gruft der Gallimards, einem riesigen Granithaufen, der dort seit Jahrhunderten finster aufragte.
Ich umkreiste ihn zweimal, kratzte Erde und Laub beiseite und hielt nach irgendeiner Art von Tasche Ausschau.
Nichts.
Ich fluchte und trat mit dem Stiefel gegen die Mauer der Gruft. Polidori hatte fast eine ganze Woche Zeit gehabt. Warum brauchte der alte Narr so lange? Am liebsten wäre ich weiter nach Genf geritten und hätte ihn verprügelt.
Wenn Konrads Krankheit doch zurückgekommen war …
Ich verscheuchte den Gedanken und ging in die Kirche. Nach dem hellen Sonnenschein draußen brauchten meine Augen eine Weile, bis sie sich an das düstere Licht hier drinnen gewöhnt hatten. Die Kirche war beinahe leer, nur ein paar Leute saßen im Gebet versunken auf den Bänken.
Ich setzte mich ziemlich weit hinten in eine Bank. Elizabeth sah ich vorne vor einer Reihe kleiner brennender Kerzen knien, die Hände hatte sie vors Gesicht geschlagen.
Tränen stiegen mir in die Augen und ich blickte weg.
Am Altar polierte ein Junge die Gedenktafeln. Ich wusste wenig über Kirche und Gottesdienst, nur dass der Priester angeblich ein Wunder herbeiführen und Brot und Wein in Fleisch und Blut von Jesus Christus verwandeln konnte.
Vom verstaubten bunten Glas der Fenster fielen farbige Lichtbahnen durch die stille Kirche. Meine Gedanken drifteten ab.
Wein in Blut. Blei in Gold. Medizin tropfte in die Adern meines Bruders. Die Umwandlung von Substanzen.
War das Magie oder Wissenschaft? Fantasie oder Wahrheit?
Zwei Tage vergingen und das Fieber meines Bruders wich nicht.
Der ganze Körper tat ihm weh. Die Gelenke seiner rechten Hand waren geschwollen. Unten lagen unsere beiden Dienstmädchen ebenfalls noch darnieder. Der freundliche, aber nutzlose Dr. Lesage kam zur Visite und verabreichte seine üblichen stärkenden Pulver und Tinkturen, die helfen sollten, das Fieber zu bekämpfen.
»Jetzt lasse ich Dr. Murnau kommen«, sagte Vater beim Abendessen. William und Ernest waren schon ins Bett gebracht worden und nur noch Elizabeth und ich saßen mit Mutter und Vater am Tisch.
Einen Moment lang blieb es still.
»Aber ich dachte, es sei nur eine vorübergehende Krankheit«, sagte Elizabeth.
»Wahrscheinlich ist es das auch«, erwiderte Mutter, »aber es ist besser, sicherzugehen.«
Ich mied Elizabeths Blick aus Angst vor dem Zorn, den ich vielleicht darin sehen würde.
»Vor seiner Abreise«, sagte Vater, »hat Dr. Murnau mir einen genauen Plan hinterlassen, wann er sich wo aufhält, falls wir ihn noch einmal benötigen sollten. Gegenwärtig ist er in Lyon bei einem anderen Patienten. Ich denke, ich reite selbst hin und bringe ihn so schnell wie möglich zurück.«
Lyon lag in Frankreich und Frankreich befand sich im Aufruhr. Horden von Revolutionären zogen durchs Land, verbreiteten Angst und Terror und verfolgten jeden, der nicht mit ihnen übereinstimmte. Ich blickte meinen Vater an und zum ersten Mal kam er mir alt und müde vor. Mein Herz war so schwer wie die Last auf seinen Schultern.
»Ist das denn sicher für dich, Vater?«, fragte Elizabeth. »Die Geschichten, die wir gehört haben …«
»Ich nehme Philippe und Marc mit. Die Franzosen haben keinen Streit mit Genf und wir lieben die Monarchie auch nicht. Meine einzige Sorge ist, wie lange die Reise dauern wird. Morgen früh breche ich auf.«
Später am Abend fand ich Vater in seinem Arbeitszimmer, wo er eilig eine Reisetasche packte.
»Kann ich mit dir reden?«, fragte ich und schloss die Tür hinter mir.
»Um was geht es, Victor?«
Ich holte tief Luft und stieß sie dann wieder aus. »Vater, bei Konrads jetzigem Zustand, ist es da nicht sinnvoll, doch noch einmal über … das Elixier des Lebens nachzudenken?«
Er sah mich an, als wäre ich verrückt geworden. Aber ich blieb beharrlich.
»Wir brauchen nur noch eine letzte Zutat und …«
Er hob die Hand. »Genug. Dr. Murnau wird uns beraten.«
»Aber er hat doch selbst gesagt, dass er Konrad nicht so bald wieder dieselbe Medizin verabreichen kann. Was soll er denn tun? Wenn du Mutter die Wahrheit gesagt hättest, wäre sie vielleicht einverstanden gewesen, mit dem Elixier des Lebens weiterzumachen. Wenn wir es wenigstens zur Hand hätten, könnten …«
»Nein!«
»Würdest du ihn lieber sterben lassen?«
»Wie oft soll ich es dir noch sagen? In der Alchemie steckt keine Antwort!«
Mein Herz hämmerte. »Wie kannst du
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