Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
das behaupten, wenn du sie doch selbst praktiziert hast?«
Sein winziges Zögern verriet ihn. »Unsinn.«
Meine Stimme bebte. »Ich habe deine Handschrift in Eisensteins Buch gesehen. Du hast Blei in Gold verwandelt.«
Leise sagte er: »Es war kein Gold.«
Verwirrt schaute ich ihn an.
»Es sah nur so aus wie Gold.« Seine Stimme klang bitter.
»Aber bei deinen Berechnungen ging es um zweihundert Pfund. Wenn es kein Gold war, warum hast du …?« Meine Stimme verebbte.
Mein Vater wandte sich von mir ab, und ich hatte das furchtbare Gefühl, dass mir gerade etwas für immer genommen wurde.
Er blickte aus dem Fenster. »Es sah so überzeugend nach Gold aus, dass sich sehr viele Leute zum Narren halten ließen.«
Es dauerte einen Moment, bis ich wieder etwas sagen konnte. »Du hast den Leuten falsches Gold verkauft?«
»Als ich ein junger Mann war, war das Vermögen der Frankensteins nahezu aufgebraucht. Meine Familie hätte alles verloren. Alles. Und als ich dann die Dunkle Bibliothek entdeckte, dachte ich, Alchemie würde uns retten. Das Gold war leider nicht echt, doch es war möglich, es vorsichtig über verschiedene Agenten zu verkaufen – weit weg, ins Russische Reich und in den Orient.«
»Ich verstehe.«
»Ohne dieses Geld wäre unsere Familie in Konkurs geraten. Ich hätte nicht geheiratet. Dich würde es nicht geben. Ich bin nicht stolz darauf, aber es war notwendig.«
Ich glühte. Mein Vater, der große Richter, war ein Lügner, ein Heuchler, ein Verbrecher. Die Gedanken drehten sich in meinem Kopf. Er wandte sich um und blickte mich an, und dieses Mal war ich es, der ihm nicht in die Augen blicken konnte, so sehr schämte ich mich für ihn.
Er nahm mich fest bei den Schultern. »Das darfst du niemandem erzählen, Victor. Verstehst du mich?«
Ich sagte nichts.
»Es würde uns zugrunde richten.«
Ich zwang mich dazu, ihn anzusehen. »Und was ist mit Konrad?«
»Hör mir zu, mein Sohn. Alchemie ist eine Illusion. Das musst du einfach akzeptieren.«
Ich entzog mich seinem Griff. »Vielleicht hast ja nur du versagt. Du kannst nicht die ganze Alchemie abtun, nur weil du kein Gold machen konntest! Vielleicht sind andere talentierter als du!«
»Victor …«
»Nein«, sagte ich, während mir das Blut in den Ohren pochte. »Ich vertraue dir nicht mehr!«
Er versuchte noch einmal, seine Hände auf meine Schultern zu legen, doch ich wandte mich ab und floh aus seinem Arbeitszimmer.
Am nächsten Morgen war er fort, nach Lyon aufgebrochen, noch bevor ich aufgewacht war.
Beim Frühstück blickte Mutter Elizabeth und mich unbehaglich an und sagte: »Euer Vater hat die Anweisung hinterlassen, dass ihr bis zu seiner Rückkehr im Haus bleiben müsst.«
»Warum?«, wollte ich wissen.
»Er ist besorgt, dass ihr vielleicht wieder irgendwelche Dummheiten macht.«
Elizabeths Gesicht zeigte unschuldiges Erstaunen. »Das ist nicht gerecht! Wir haben keine solchen Pläne!«
Ich sagte nichts, schaute Mutter an und fragte mich, wie viel sie wusste – von meinem Gespräch mit Vater gestern Abend, von Vaters krimineller Vergangenheit.
»So war sein Wunsch und dem wird entsprochen«, sagte sie entschieden.
Mein Puls hämmerte wie zorniges Trommelschlagen. Ich würde Vaters Geheimnis nicht länger für mich behalten – wenn es überhaupt ein Geheimnis war. Ich wollte nicht wie ein Gefangener behandelt werden! Aber Elizabeth sprach, bevor ich loslegen konnte.
»Bestimmt ist mir doch die Freiheit gestattet, zum Gottesdienst zu gehen.«
Mutter zögerte, denn dem Wort »Freiheit« wurde bei uns eine große Bedeutung beigemessen. »Ja, ich bin sicher, euer Vater würde dir das nicht abschlagen.«
»Da bin ich aber froh«, sagte ich. »Denn Elizabeth will heute Morgen wieder nach St. Mary, um eine Kerze für Konrad anzuzünden.«
Elizabeth warf mir einen überraschten Blick zu.
»Und ich bringe sie gern hin«, fügte ich schnell hinzu, bevor Elizabeth etwas anderes sagen konnte.
»Nur zur Kirche und zurück«, meinte Mutter. »Und trödelt nicht herum, sonst gibt es keine Ausnahmen mehr.«
Später auf dem Weg zur Kirche in dem leichten Einspänner fragte mich Elizabeth: »Was hast du vor?«
»Nichts«, log ich. »Ich dachte, ich könnte vielleicht auch eine Kerze anzünden.«
Ich ließ sie allein in die Kirche gehen und eilte zu der Gruft, um nach einer Nachricht von Polidori zu schauen. Wenn ich wieder nichts vorfand, so schwor ich mir, würde ich nach Genf reiten und Polidori persönlich
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