Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
gegenübertreten.
An der Grabstätte ließ ich mich auf Hände und Knie nieder und suchte. Als ich nichts fand, kletterte ich über den niedrigen Zaun und spähte in das Innere der Gruft. Nichts. Ich hätte bei meinen Anweisungen eine genaue Stelle nennen sollen. Wo hätte ich die Nachricht hinterlegt?
Dann überlegte ich mir, dass Polidori die Nachricht sicher nicht selbst gebracht hätte. Er hätte einen vertrauenswürdigen Boten beauftragt … oder Krake geschickt.
Eine große Eiche beschattete diesen Teil des Friedhofs, und ich dachte daran, wie schnell der Luchs sich durch die Bäume bewegte. Ich schaute nach oben und sah einen Beutel, der von einem niedrigen Ast herabhing. Ich sprang und riss ihn herunter. Er roch nach Katze.
Mit einem Hauch von Unbehagen blickte ich mich um und erwartete halb, den nervtötenden Blick des geheimnisvollen Luchses auf mich gerichtet zu sehen. Dann band ich den Beutel auf und zog ein kleines Stück Papier mit dem Datum von gestern heraus.
Mein werter Herr,
ich habe die Übersetzung beendet und die letzte Zutat entdeckt. Sie ist ziemlich nahe. Wenn Sie das Elixier immer noch zu erhalten wünschen, kommen Sie bei der nächsten Gelegenheit.
Ihr ergebener Diener
Julius Polidori
Ich ging in die Kirche, fand Elizabeth betend vor und zündete eine Kerze an.
Dann kniete ich mich neben sie und sagte im Stillen Ich danke dir . Zu wem, weiß ich nicht.
Als wir zurückkamen, waren zwei Pferde vor unserer Kutsche eingespannt. Richard, einer unserer Stallknechte, sagte, unsere Mutter wolle uns sofort sehen. Wir sprangen die Treppen hinauf, voller Angst, dass es eine schlimme Nachricht wegen Konrad gäbe.
Als ich an meinem Zimmer vorbeikam, sah ich, dass ein Diener meine Sachen in einen großen Koffer packte.
»Was ist denn los?«, fragte ich.
Meine Mutter tauchte im Flur auf. »Victor, Elizabeth«, sagte sie. »Ein drittes Mädchen ist krank geworden. Geneviève aus der Küche hat Fieber und Flecken am ganzen Körper.«
»Sind es die Pocken?«, fragte ich.
»Schon möglich.«
»Ist es das, was Konrad hat?«, fragte Elizabeth.
»Er hat an manchen Stellen einen Ausschlag auf der Haut. Dr. Lesage ist unterwegs. Ich möchte, dass ihr beide mit Ernest und William in unser Genfer Haus fahrt.«
Elizabeth machte ein finsteres Gesicht. »Lass mich hierbleiben. Wer hilft dir denn sonst mit Konrad?«
»Ich habe genug Hilfe«, sagte Mutter fest. »Aber ich könnte es nicht ertragen, wenn noch eines meiner Kinder krank würde. Ich will, dass ihr alle weg seid, bis wir wissen, ob es die Pocken sind oder die Pest.«
Elizabeth wollte noch einmal widersprechen, doch Mutter hob den Finger und schüttelte den Kopf. »Keine Diskussion. Ich schicke auf der Stelle einen Boten, wenn es Neues zu berichten gibt.«
Innerhalb einer Stunde befand ich mich zusammen mit Elizabeth, William und Ernest in der Kutsche auf dem Weg nach Genf. William bestand darauf, auf meinem Schoß zu sitzen, und ich hielt ihn gut fest. Er blickte zu mir hoch, lächelte und hielt das alles für ein großes Vergnügen. Ich drückte meine Backe an seine und versuchte, an seiner weichen Wärme Trost zu finden.
Mutter musste eine Nachricht vorausgeschickt haben, denn als wir ankamen, war die Dienerschaft bereits dabei, die Fensterläden zu öffnen und die Schonbezüge von den Möbeln zu nehmen. Das Personal begrüßte uns äußerst warmherzig und wollte alles über Konrad und die anderen kranken Diener wissen.
Ich konnte an nichts anderes denken, als zu Polidori zu gehen. Je schneller ich wegen des dritten Bestandteils Bescheid wusste, desto schneller konnte ich ihn besorgen und das Elixier in Händen halten.
Schnell aß ich mein Mittagessen und stand mit einer Entschuldigung vom Tisch auf.
Elizabeth folgte mir hinaus in den Flur. »Wohin gehst du?«, fragte sie misstrauisch.
Ich sagte nichts, aber sie wusste Bescheid. Sie nahm meine Hand, zog mich in ein leeres Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
»Wir haben es deinem Vater fest versprochen, Victor«, sagte sie.
»Ich habe aber keinerlei Absicht, dieses Versprechen zu halten.«
»Also, ich schon«, erwiderte sie.
»Polidori ist mit der Übersetzung fertig«, berichtete ich.
»Woher weißt du das?«
Ich zog seinen Zettel aus der Tasche und zeigte ihn ihr. »Wir sind in Verbindung geblieben.«
»Und das hast du vor uns geheim gehalten?«
»Ihr wolltet ja alles aufgeben.«
Schnell las sie die Notiz und blickte mich dann wieder an.
»›Ziemlich nahe‹«,
Weitere Kostenlose Bücher