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Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Titel: Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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dem, was jetzt kommen musste, hatte ich entsetzliche Angst.
    »Gemäß Agrippa«, fuhr Polidori fort, »muss es von der Person kommen, die dem, der das Elixier zu sich nimmt, am nächsten steht.«
    »Das ist zu viel«, flüsterte Henry kaum hörbar neben mir. »Das ist ja fast schon Hexerei. Dein Vater hatte völlig recht …«
    »Ruhig!«, sagte ich zu Henry, weil ich befürchtete, er würde Vaters Namen erwähnen oder etwas, das unsere Identität offenlegen würde.
    »Ich habe Ihnen gesagt, es würde Ihre Entschlossenheit auf die Probe stellen«, betonte Polidori. »Mir selbst ist bei der Übersetzung dieser Worte etwas schwindelig geworden. Das ist nicht …«
    »Wie viel Knochenmark?«, wollte ich wissen und ging wieder auf und ab.
    »Ach«, antwortete Polidori, »diese Information ist etwas besser. Nicht so sehr viel.«
    »Victor«, sagte Henry, »du überlegst doch nicht ernsthaft …«
    »Wie viel?«, schrie ich. »Können Sie nicht mal eine einfache Antwort geben?«
    »Ich habe berechnet, dass zwei Finger reichen sollten.«
    Mein Blick schnellte zu meiner rechten Hand, die Hand, die ich am wenigsten benutzte. »Mein Ringfinger und der kleine Finger?«, fragte ich.
    »Insgesamt, ja. Sie sollten ausreichen.«
    Ich klappte die beiden Finger ein und versuchte, mir meine Hand ohne sie vorzustellen. Ich hatte Soldaten aus ihren Kriegen heimkommen sehen – mit Stümpfen, wo sonst ihre Beine waren, mit Armen, die an den Ellbogen abgetrennt waren. Dieser Anblick hatte in mir Schrecken und riesiges Mitleid hervorgerufen, denn es kam mir furchtbar vor, so vermindert weiterleben zu müssen. Aber der Verlust von zwei Fingern würde lange nicht so gewichtig sein.
    »Das wäre nicht so schlimm«, sagte ich. »Ich könnte immer noch Dinge greifen …«
    »Victor«, sagte Elizabeth leise. »Du siehst so blass aus. Bist du dir sicher?«
    Ich nickte.
    »Denn wenn du es nicht bist«, sagte sie, »ich bin es.«
    Henry sog scharf die Luft ein. Ich blickte meine Cousine erstaunt an. Die Vorstellung, sie verwundet und verunstaltet zu wissen, war zu schrecklich.
    »Nichts darf deine Hände verunstalten«, sagte ich. »Nein. Und es würde ja auch nichts nützen. Das Mark muss von seinem nahesten Verwandten kommen. Ich bin sein Bruder. Dasselbe Blut fließt durch unsere Adern.«
    »Aber ich bin seine Cousine«, wandte sie ein. »Also kann unser Blut nicht so sehr unterschiedlich sein. Und ich liebe ihn. Wir sind Seelenverwandte.«
    Ihre Worte trafen wie ein Dolch in meine Brust. Einen Moment lang war ich unfähig zu sprechen.
    »Und übrigens«, fuhr sie fort, »hat Herr Polidori nicht ›Blutsverwandter‹ gesagt. Sondern ›der ihm am nächsten steht‹. Das ist etwas ganz anderes.«
    Ich sah den Alchemisten an. »Was genau hat Agrippa gemeint?«
    »Die junge Dame hat recht. Die Übersetzung ist keine einfache Sache und es gibt viele verschiedene Bedeutungen für das lateinische ›nah‹. Wie nun die Blutsverwandtschaft gegen die Liebe einer Seelenverwandten abzuwägen ist …«
    »Das kommt gar nicht infrage«, sagte ich. »Ich erlaube das nicht.«
    Elizabeths Stimme wurde hart. »Du bist nicht mein Gebieter, Victor.«
    »Ich werde das tun!«, schrie ich. »Verdammt, lass mich das tun!«
    Was war es, das mich so überwältigte? War es meine Eifersucht, die Tatsache, dass sie ihn so sehr liebte, um einen Teil ihrer selbst für ihn zu opfern? Oder war es nur der Gedanke, dass irgendjemand Konrad näher war als ich?
    »Machen Sie es jetzt«, sagte ich zu Polidori.
    »Sind Sie sich sicher, junger Herr?«
    Ich nickte.
    Wieder einmal führte er uns durch den kurzen Gang zum Fahrstuhl. Meine Beine spürten kaum den Boden, die Wände wirkten wie schimmernde Schleier. Dann fuhren wir hinab ins Labor. Polidori rollte sich selbst herum und zündete mehrere Kerzen und Laternen an, einschließlich eines großen Kronleuchters, den er über einem langen, schmalen Tisch hochzog.
    Er hatte sich schon darauf vorbereitet, dass ich kam. Auf dem Tisch lagen ordentlich übereinandergeschichtet sauberes Leinen, ein Häufchen Watte und aufgerollte Binden. Und auf einem separaten Tisch in Reichweite befanden sich verschiedene Meißel und ein Holzhammer.
    Bei diesem Anblick drehte sich mir der Magen um, ich würgte und die Tränen stiegen mir in die Augen, bevor ich mich wieder fassen konnte.
    »Du musst das nicht durchziehen«, raunte mir Henry zu.
    »Ich muss«, sagte ich. Ich war sicher, dass Konrad ohne dieses Elixier sterben würde. Und wenn ich nicht

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