Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
alte Schulte-Stein in Uniform und mit der Familie im Garten. Dann zusammen mit seinen SS-Leuten, die auf dem Hof Geburtstag feiern. Und dann noch Bilder aus Düstermühle. Der Kirchplatz, wo an jedem Haus eine Hakenkreuzflagge weht. Aufmärsche in Uniform. Das Kriegerfest.«
»Und der alte Schulte-Stein wollte diese Bilder verbrennen.«
»Ja. Er wollte alle Beweise vernichten, um später mit weißer Weste dazustehen.«
»Aber warum, um alles in der Welt, hast du dieses Album gestohlen?«
»Ich war eben ein Kind. Die Flucht …« Sie brach ab. »Du weißt schon. Mutter sprach kaum noch. Sie war hart geworden, wie so viele. Sie sagte immer nur: Das ist jetzt dein Zuhause. Denk nicht an Königsberg zurück. Und dann waren da diese Fotos, von meinem neuen Zuhause, und ich wusste, sie sollten verbrannt werden. Da habe ich sie heimlich stibitzt und unter meinem Bett versteckt. Damit ich darin blättern kann. Als wäre ich hier aufgewachsen. Das waren meine Bilder. Mein Haus, mein Dorf, meine Nachbarn. Als wäre ich ein ganz normales Kind.« Sie lachte wieder, doch nun klang es gezwungen. »Albern, nicht wahr? Aber so sind Kinder nun mal.«
»Und Alfons Schulte-Stein wusste, dass du dieses Album an dich genommen hattest?«
»Er hat mich damals beobachtet. Er war ja kaum älter als ich. Ein Dreivierteljahr vielleicht. Er hat mich aber nicht bei seinem Vater verpetzt. Keine Ahnung, weshalb. Ich hatte es fast schon vergessen, aber dann stand er plötzlich bei mir vor der Tür. Er hatte sich daran erinnert, an dieses Fotoalbum. Und er wollte es unbedingt sehen.«
»Du hast es ihm gezeigt?«
»Natürlich. Warum denn nicht? Ich habe eine Weile danach suchen müssen, das schon. Im Lauf der Jahre hatte ich es immer wieder wegwerfen wollen, wenn es mir beim Großreinemachen in die Hände fiel. Aber irgendwas hat mich zurückgehalten. Ich dachte an dieses kleine Mädchen von damals und wie wichtig das Album für mich war. Dann habe ich es wieder irgendwo in eine Truhe gesteckt, wo es keinen stört.«
»Was wollte Alfons mit den alten Bildern? Hat er das gesagt?«
»Nein. Er hat sie sich einfach nur angesehen. Ich habe ihm einen Tee gekocht und ihn allein gelassen. Ich habe sogar gesagt, er könne das Album behalten, schließlich gehörte es seinem Vater. Aber das wollte er nicht. Er wollte es sich nur ansehen. Nach einer Stunde ist er wieder gegangen.« Sie zögerte. »Wer weiß schon, was ihn bewogen hat. Weißt du, seit ich alleine bin, denke ich immer wieder darüber nach. Wie damals alles war. In Königsberg und danach. Keine Ahnung, wo diese Gedanken herkommen. Aber …« Sie brach ab. »Wie auch immer. Ich hab ihn einfach alleine gelassen und in der Küche die Fenster geputzt. Er wird schon seine Gründe gehabt haben.«
Carl dachte nach. Alfons Schulte-Stein war kein Mann gewesen, der in der Vergangenheit lebte. Er konnte sich schwer vorstellen, dass Sentimentalität der Grund für diesen Besuch gewesen war.
»Und jetzt sagen die Leute, Siegfried hat ihn getötet«, fuhr Rosa fort. »Wegen einer Sache, die lange zurückliegt und die ihre Väter betraf. Das ist doch merkwürdig, nicht wahr?«
Der Friedhof von Düstermühle rückte ins Blickfeld. Rosa parkte unter den Platanen, die an der Friedhofsmauer standen.
»Darf ich mir dieses Album einmal ansehen?«, fragte er.
»Natürlich.« Sie lächelte. »Ich habe Apfelkuchen gebacken, wie du ihn am liebsten hast. Wir könnten später zu mir fahren, dann koche ich Kaffee und hole das Album hervor. Was hältst du davon?«
Bevor er antworten konnte, fügte sie hinzu: »Danach fahre ich dich natürlich nach Hause. Du musst dir keine Gedanken machen.«
Auch Carl lächelte. »Ach, mien Deernken. Was wäre ich nur ohne dich?«
Carl stand allein vor dem Grabstein. Er atmete die feuchte Luft ein. Die Wintersonne stand tief am Himmel und warf ein kaltes Licht auf das Grab.
Maria Beeke, geb. Huesmann
1932 – 2006
Der Herr ist dein Hirte, dir wird nichts mangeln
Ganz vorsichtig und mit eisernem Klammergriff um seinen Stock ging er in die Knie. Zupfte ein paar nasse Blätter vom Beet, gab ein neues Grablicht in die Messingfassung, zündete es an. Und zog sich wieder hoch, wacklig und mit zitternden Knien.
Er schaute sich um. Rosa war nicht zu sehen, das Grab ihrer Familie lag am anderen Ende des Friedhofs. Hinter einer Hecke entdeckte er seinen ehemaligen Nachbarn, Walther Vornholte. Er stand am Grab seiner Frau, die erst vor Kurzem gestorben war. Da lag noch immer
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