Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
Wagen in die Auffahrt. Nebenan entdeckte sie ihre Nachbarin im Vorgarten, wo sie das letzte Laub von den Beeten kratzte. Die Frau blickte zu dem Wagen auf, fasste sich ins Kreuz und winkte. Rosa winkte freundlich zurück. Sie selbst hatte ihre Rabatten längst winterfest gemacht. Da sie im Vergleich zu früher, als ihr Mann noch lebte, nur wenig Arbeit zu erledigen hatte, staute sich nichts mehr.
In der dunklen Jahreszeit hockte sie in jeder freien Stunde unter ihrer Lampe im Wohnzimmer und machte Handarbeiten. Das würde sie auch heute tun. Im Kofferraum lag Wolle, die aus dem urigen Bastellädchen hinter der Kirche stammte. Die nächsten Tage wollte sie darauf verwenden, sich einen hübschen Pullover mit einem Schneemannmotiv zu stricken.
Als nach ihren Eltern auch ihr Mann gestorben war, hatte sie zunächst Angst davor gehabt, allein zu sein. Ihr ganzes Leben war sie keinen einzigen Tag allein gewesen. Sie hatte sich gefragt: Wenn ich nicht gezwungen bin, das Leben anderer aufrecht zu halten und somit auch meins, wird dann nicht zwangsläufig alles zusammenstürzen?
Aber das Gegenteil war der Fall gewesen. Zu ihrer Überraschung. Gar nichts stürzte zusammen. Stattdessen wurde ihr ganzes Dasein von einem anderen, ganz neuen Gefühl bestimmt: Freiheit. Denn sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Keiner stellte mehr Forderungen an sie. Auf niemanden musste sie achten. Keine Tabletten, keine Windeln, kein Füttern, kein Waschen. Sie war frei. Es war, als würde sich ihr Körper im Raum ausdehnen. Ein wunderbares Gefühl.
Da war ein Teil in ihr, der sich für dieses Glück schämte. Das hieß doch, dass sie eine schlechte Ehefrau und eine schlechte Tochter gewesen war. Wie konnte sie etwas anderes empfinden als Trauer? Trauer um ihren Mann und Trauer um ihre Eltern.
Doch dann sagte sich Rosa, wenn diese Menschen noch lebten, würde sie weiterhin alles tun, was notwendig wäre. Ohne zu klagen und ohne sich eine Pause zu gönnen. Deshalb brauchte sie sich keinen Vorwurf zu machen. Sie sollte es genießen, das Leben. Etwas anderes blieb ihr nicht mehr.
Das Haus war jetzt immer blitzblank geputzt, so wie sie es mochte. Dann ging sie barfuß durch die Räume, betrachtete ihre hübschen Möbel, ihre geliebten Ölgemälde und die weichen Teppiche. Alles war so behaglich. Und dann diese Stille, diese wunderbare Ruhe. Keiner war mehr da, der sie herumkommandierte. Nie in ihrem Leben war sie so glücklich gewesen wie jetzt, als alter Mensch.
»Hallo, Waltraut«, begrüßte sie ihre Nachbarin. »Das sieht ja nach einer Menge Arbeit aus bei dir.«
»Nun ja, irgendwann muss es ja gemacht werden. Zu Weihnachten soll der Vorgarten schließlich ordentlich sein, wie sieht das sonst aus.«
»Da hast du recht. Schönen Tag noch.«
Sie nahm die Tasche mit der Wolle aus dem Kofferraum.
»Ach, Rosa.« Ihre Nachbarin trat näher. »Hast du das schon gehört? Mit dem Feuer?«
»Dem Feuer? Nein. Welches Feuer?«
»Na, bei Schulte-Stein. Da hat es schon wieder gebrannt, stell dir vor. Der Schuppen an der Wiese stand heute Nacht in Flammen.«
»Noch ein Feuer? Wie kann das denn angehen?«
»Ich weiß es nicht. Aber die Polizei ist da gewesen. Die haben Ermittlungen aufgenommen, heißt es. Also war es wohl Brandstiftung.«
»Siegfried Wüllenhues hat dieses Feuer zumindest nicht verursacht.«
»Ganz richtig. Irgendeiner muss es ihm nachgetan haben. Was furchtbar ist, wenn du mich fragst. Natürlich gibt es noch Leute, die eine Rechnung offen haben mit den Schulte-Steins. Aber dort gibt es einen Todesfall zu beklagen. In so einem Moment kann man doch nicht auch noch nachtreten, oder?«
Rosa dachte an Alfons, der bei ihr vor der Tür gestanden und verlangt hatte, die alten Fotos zu sehen. Nach mehr als zwanzig Jahren, in denen sie so gut wie kein Wort miteinander gesprochen hatten. Und dann so etwas. Ob sein Besuch mit den aktuellen Ereignissen zusammenhing? Wie Carl angedeutet hatte?
Ihre Nachbarin stützte sich auf die Harke.
»Sag mal, Rosa, hast du dich eigentlich für den Theaterabend der Landfrauen angemeldet? Nächsten Mittwoch?«
Die Gedanken an das Album verflüchtigten sich. »Ja, natürlich. Wie jedes Jahr.«
»Ach, könntest du mich dann vielleicht mitnehmen? Mein Mann braucht das Auto, und ich würde mir das so ungern entgehen lassen.«
»Aber ja, das mach ich doch gern.«
Sie schloss den Wagen ab und ging zur Haustür. Sie würde sich in ihren Sessel ans Öfchen setzen, das Hörspiel im Radio einschalten
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