Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
Schleife zurück und schloss den Deckel. Eilig stellte sie die Kiste weg. Es war keine gute Idee gewesen, die Sachen ihrer Mutter hervorzuholen. Als hätte sie das alles nicht schon vorher gewusst.
Sie lehnte sich zurück und versuchte sich von der Wärme des Öfchens ablenken zu lassen. Wärme – das war eine der ersten Erinnerungen an den Hof von Schulte-Stein. Da hatte sie an einer windgeschützten Seite des Stalls gesessen und sich die wärmenden Strahlen der Märzsonne ins Gesicht scheinen lassen. Alles war ganz still gewesen, kein Gefechtsfeuer, kein fernes Dröhnen von Flugzeugen, gar nichts. Nur das Zwitschern der Vögel, die mit ihrer Balz begannen. Da hockte sie also, ein siebenjähriges Mädchen, dessen Seele schon alt genug war, das Glück und den Trost zu erkennen, der in einem Sonnenstrahl liegen konnte. Ein Moment voller Wärme und Schönheit, ganz für sich allein.
Dort war Alfons aufgetaucht, um ihr ein Stück Weißbrot zuzustecken. Es war das erste Mal, dass er ihr etwas zu essen gab. Es war frisch gebackenes duftendes Weißbrot. Nur ein ganz kleines Stück. Aber trotzdem. Wann hatte sie so etwas zum letzten Mal gesehen? Das musste noch in Ostpreußen gewesen sein. Sein herrischer Vater wollte nichts mit der Flüchtlingsfamilie teilen, doch Alfons hatte sich ihm heimlich widersetzt. Er steckte es ihr wortlos zu, drehte sich um und lief davon.
Alfons hatte schon als Kind nicht viel gesprochen. Aber er war ein guter Junge gewesen. Er hatte Mitleid empfunden. Bedauerlich, wie sehr er sich verändert hatte. Das Leben hatte ihn hart gemacht, wahrscheinlich musste das zwangsläufig so kommen bei dieser Familie. Kaum einer in Düstermühle war gut auf Alfons zu sprechen. Nur Rosa war immer bemüht gewesen, sich zurückzuhalten. Sie hatte nie vergessen, was er damals alles für sie getan hatte. Und irgendwo tief in ihm drin, davon war sie überzeugt gewesen, war er der ernste schweigsame Junge geblieben, der damals Mitleid mit dem ausgehungerten Mädchen auf seinem Hof empfunden hatte.
Es war der Junge gewesen, der sie Menschlichkeit gelehrt hatte.
10
Am frühen Nachmittag fing Keller seinen Chef im Flur ab.
»Hambrock? Hast du eine Sekunde?«
»Klar.«
Hambrock wandte sich zu seinem Büro, doch Keller machte keine Anstalten zu folgen. Stattdessen deutete er mit dem Kopf zur Toilettentür, und ohne die Reaktion seines Chefs abzuwarten, steuerte er die Tür an und stieß sie auf. Hambrock blickte verwundert hinterher, doch schließlich folgte er ihm.
Keller zündete sich drinnen eine Zigarette an. Hier stand das Fenster auf Kipp, wenn auch nur als Alibi, denn Keller machte sich nicht einmal die Mühe, den Rauch in die Richtung des offenen Schlitzes zu pusten. Im Raum war es empfindlich kühl.
»Wie ist die Befragung von Manfred Schulte-Stein gelaufen, nachdem ich nicht mehr dabei war?«, fragte er.
Keller hob die Schultern. »Ich hab den Typen noch nicht von der Liste gestrichen. Aber es wäre wohl besser, wir hätten noch andere Eisen im Feuer.«
»Das denke ich auch.«
»Ich werde mir mal den Vater der Exfrau vornehmen. Antonius Holtkamp. Er wohnt in Sichtweite des Anwesens der Schulte-Steins. Wir wissen noch gar nicht, ob der ein Alibi für den Todeszeitpunkt hat. Wenn es der Sohn nicht war, war es vielleicht der Schwiegervater. Ich möchte mich noch ein bisschen umsehen in der Familie Schulte-Stein.«
»Sehr gut. Mach das.« Hambrock wandte sich zum Gehen. Er wollte raus aus dem stinkenden Toilettenraum. »Wir sehen uns dann später.«
»Warte, Hambrock. Da ist noch was. Ich … ich muss weg. Nur für eine Stunde oder so. Aber vielleicht schaffe ich es nicht zur Besprechung.«
»Wohin denn?«
»Es ist privat. Ich hätte auch gar nichts gesagt, wenn ich genau wüsste, wie lange das dauert. Dann hätte ich mich einfach davongeschlichen.«
»Ich verstehe.« Hambrock lächelte. »Geht schon in Ordnung.«
Keller nahm einen weiteren tiefen Zug von seiner Zigarette. Zu Hambrocks Verwunderung sagte er: »Es ist mein Sohn. Es gab wohl eine Schlägerei in der Schule.«
Es war das erste Mal, dass Keller etwas von seinem Privatleben preisgab. Hambrock wusste von seiner Scheidung, doch das war alles. Er hätte nicht einmal sagen können, wo der neue Kollege wohnte.
»Sie haben versucht, meine Exfrau zu erreichen. Aber die ist in einer Besprechung. Keine Ahnung, was da los ist. Trotzdem muss einer von uns da hin.«
»Kein Problem, lass dir Zeit. Ich halte dir den Rücken frei.«
Keller
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