Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
Tag genauso grimmig wie verzweifelt versuchte, Rosa irgendwie zu ernähren. Aber sie hielt Wort, auch wenn sie sich ihrer Mutter gegenüber furchtbar schuldig fühlte.
Rosa versuchte es mit Fröhlichkeit auszugleichen. Freude und Unbefangenheit waren damals die Medizin gewesen, mit der sie ihre Mutter trösten konnte. Sie aufzuheitern und ihr vorzugaukeln, den Krieg und seine Schrecken vergessen zu haben, war das Einzige gewesen, was sie hatte tun können, um ihrer Mutter das Gefühl zu geben, dass wenigstens das Kind unversehrt und unbeschädigt durch diese Zeit ging.
Rosa dachte an das fehlende Foto aus dem Album. Ihr war wieder eingefallen, was darauf abgebildet gewesen war. Ein junges Paar. Ein Mann und eine Frau, die aneinandergeschmiegt unter dem Rosenbogen im Garten der Schulte-Steins standen. Aber das war es auch schon. Rosa wusste nämlich nicht, wer die beiden waren. Sie hatte es auch damals nicht gewusst. Es waren zwei Menschen, die nach ihrer Ankunft nicht mehr auf dem Hof gewesen waren. Oder konnte sie sich nur nicht mehr daran erinnern? Wenn sie doch nur noch mal einen Blick auf dieses Pärchen auf dem Foto werfen könnte.
Rosa legte die Handarbeit auf den Couchtisch und rieb sich die Augen. Sie wusste, das Ganze würde sie nicht loslassen. Sie musste etwas tun. Licht in das Dunkel dieser alten Geschichten bringen. Also entschied sie sich, die Zigarrenkiste ihrer Mutter hervorzuholen, das Vermächtnis ihres Lebens, das Rosa seit ihrem Tod nicht mehr angerührt hatte. Lieber wäre es ihr gewesen, die Kiste dort zu lassen, wo sie war: in der hintersten Ecke des alten Wäscheschranks auf dem Dachboden. Doch wenn sie etwas über das Paar auf dem Foto und über den Tod von Alfons Schulte-Stein erfahren wollte, musste sie sich diese Kiste ansehen. Ihre Mutter hatte damals Tagebuch geführt. Sie konnte sich gut erinnern, wie sie an dem alten Tisch im Verschlag gesessen und in ein Notizbuch gekritzelt hatte. Vielleicht war dort etwas zu lesen. Wenn nicht dort, dann nirgends.
Rosa ging auf den Dachboden, fand nach einer Weile die Kiste und kehrte zu ihrem Sessel am Öfchen zurück. Sie starrte lange den Deckel an und fragte sich: Wollte sie das wirklich? Wäre es nicht besser, die alte Zeit ruhen zu lassen und die Geheimnisse ihrer Mutter nicht anzutasten?
Doch die Neugierde siegte. Rosa öffnete den Deckel und blickte hinein. Zu ihrer Überraschung lag kein Tagebuch darin. Nur stapelweise Unterlagen. Briefe ihres Vaters aus dem Krieg, Urkunden und Grundbucheintragungen, lauter verblichene und brüchige Papiere. Und auf dem Grund der Kiste sammelten sich Broschen und kleine Figuren, winzige Fotografien und Zettelchen. Doch das war alles. Ein Tagebuch war nicht dabei.
Rosa begriff: Ihre Mutter hatte es vernichtet, bevor sie gestorben war. Sie hatte ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen. Wer wollte ihr das verübeln?
Etwas enttäuscht betrachtete sie die offene Kiste. Hier erfuhr sie nichts mehr über ihre Zeit bei Schulte-Stein. Und nichts über das Pärchen auf dem gestohlenen Foto. Es war alles fort. Sie packte die Unterlagen zurück, um die Kiste wieder zu schließen. Da fiel ihr ein kleiner Gegenstand entgegen. Eine weiche, rosafarbene Haarschleife. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Es war die Schleife ihrer Schwester Margot. Margot, die auf der Flucht gestorben war.
Die Bilder brachen unkontrolliert über sie herein. Der eiskalte Winter. Die Dunkelheit. Zahllose Schichten Kleidung, die kaum etwas gegen die Kälte ausrichten konnten. Der lange Marsch über verschneite Ebenen, der scharfe Wind, der ihnen Schneekristalle ins Gesicht warf. Dorfbewohner mit finsteren Mienen, die schon viel zu viele Trecks hatten vorbeiziehen sehen und nichts mehr zu geben hatten, am allerwenigsten Menschlichkeit. Eine Puppe, die Rosa im Schnee gefunden hatte, und die dann doch keine Puppe, sondern ein toter Säugling gewesen war. Tiefflieger, die alles niederschossen, Menschen, die von Panzern überrollt wurden, ein alter Mann, der mit seinem Karren im Eis eingebrochen und in der dunkeln Stille des Wassers einfach verschwunden war, aufgeplatzte Koffer am Wegesrand, aus denen Geldscheine und Seidenwäsche quollen, zurückgelassen von Menschen, die an dieser Stelle die letzte Hoffnung aufgegeben hatten, es gäbe noch etwas anderes zu retten als das nackte Leben. Schreie, Angst, Dunkelheit. Und Margot.
Rosa hörte ein schmerzvolles Aufstöhnen. Es dauerte, bis sie begriff, dass sie selbst das gewesen war. Sie warf die
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