Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
sinken. In seinen Beinen flammte der Schmerz auf. Er mutete sich zu viel zu. Es wurde Zeit, dass er nach Hause kam.
Er schloss die Augen. Von draußen drang kein Laut herein. Er bereute es, den Gottesdienst verpasst zu haben. Beinahe wäre er weggenickt, da hallte ein leises Klirren durch die Kirche. Pfarrer Rodering war im Chorraum aufgetaucht und räumte den Altar auf. Er war bereits umgezogen und trug einen dunklen Anzug. Als er aufblickte, entdeckte er Carl in der letzten Reihe.
»Herr Beeke, ich grüße Sie!« Er lächelte und trat auf ihn zu. Seine Schritte hallten von den Wänden wider. »Ich habe Sie heute beim Gottesdienst vermisst.«
»Ich war im Pflegeheim, bei der Mutter von Renate Wüllenhues.«
»Bei Ilse? Na, sie wird sich gefreut haben.«
Carl schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat mich gar nicht erkannt. Es ging ihr nicht gut.«
»Das tut mir leid.« Der Pfarrer legte tröstend seine Hand auf Carls Schulter. »Ich weiß, es ist schwer, wenn unsere Weggefährten eine solche Krankheit erleiden müssen.«
»Das ist es gar nicht, Herr Pfarrer. Ich wollte mit ihr sprechen. Über früher, wissen Sie? Ich hatte gehofft, dass sie mir ein paar Fragen beantworten kann.«
Der Pfarrer setzte sich neben ihn auf die Bank.
»Sie meinen wegen der Dinge, die hier passieren?«
Carl nickte. »Die Polizei stellt auch diese Fragen. Sie versuchen herauszufinden, was damals auf dem Hof von Schulte-Stein passiert ist. Während der Zeit, in der ich nicht in Düstermühle war. Rosas Fotoalbum mit den alten Bildern ist gestohlen worden, bevor sie ermordet wurde. Deswegen.«
»Ich verstehe. Sie wollten mit Ilse reden, weil sie eine Zeitlang als Magd auf dem Hof war.«
Jetzt war Carl verblüfft. »Woher …?«
Doch dann fiel es ihm wieder ein: Rodering war in seiner Zeit als Kaplan schon einmal in der Gemeinde Düstermühle gewesen. Damals, als der alte Pfarrer Winkler noch gelebt hatte, der während des Krieges der Gemeindepfarrer gewesen war.
»Mein Vorgänger hat mich gut eingeführt in die Gemeinde«, sagte Rodering und zwinkerte. »Er kannte seine Schäfchen.«
»Er hat gewusst, was hier los war im Krieg«, sagte Carl. »Aber er ist tot. Wie fast alle anderen von damals. Nur Ilse nicht, dafür hat sich ihr Verstand davongeschlichen. Sie ist kaum mehr ansprechbar.«
»Ich fürchte, ich kann da auch nicht weiterhelfen. Pfarrer Winkler, natürlich, der war eine lebende Chronik von Düstermühle. Aber ich weiß viel weniger über die Verhältnisse. Ich habe Unterlagen über die wichtigsten Daten. Taufen, Erstkommunionen, Hochzeiten und Todesfälle. Aber sonst …«
»Es hat mit denen zu tun, die in den letzten Kriegstagen auf dem Hof der Schulte-Steins lebten. Die Zwangsarbeiter, die Mägde und Knechte und die Herrschaften. Und natürlich die fünf Kinder, Sie wissen schon, die Kriegswaisen.«
»Ich fürchte, da muss ich passen.« Er zögerte. »Aber warten Sie mal, waren es nicht sechs Kinder? Oder irre ich mich?«
»Wie bitte? Nein, ich glaube nicht. Da waren Alfons, Hanne, Fritz, Magda und Friedhelm. Von einem weiteren Kind weiß ich nichts.«
»Ja, Sie haben recht.« Er kratzte sich am Hinterkopf. »Mehr fallen mir auch nicht ein. Seltsam. Mir war, als wären da sechs Kinder gewesen.« Dann lachte er. »Aber das zeigt nur, wie wenig ich letztlich weiß. Tut mir leid, Herr Beeke, aber wie es aussieht, kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen.«
Der Kaplan und zwei Messdiener tauchten an der Tür zur Sakristei auf. Sie hielten Ausschau nach dem Pfarrer. Offenbar warteten sie auf ihn.
»Ich muss leider los«, sagte Pfarrer Rodering und erhob sich. »Kommen Sie doch ein andermal wieder. Dann habe ich mehr Zeit. Vielleicht können wir dann noch mal über diese Zeit sprechen.«
Er verabschiedete sich und verschwand mit den anderen in der Sakristei. Carl blieb auf der Kirchenbank sitzen. Ein Gedanke hatte sich bei ihm festgesetzt. Das sechste Kind. Vielleicht wusste der Pfarrer viel besser Bescheid, als er selbst glaubte, und Winkler hatte ihm damals etwas von sechs Kindern berichtet. Doch woher konnte dieses sechste Kind stammen? Und wohin war es verschwunden?
Er nutzte die Stille der Kirche, um seinen Gedanken nachzugehen. Eine Stimme sagte ihm, dass er plötzlich nah an der Lösung war. Er musste nur herausfinden, ob es dieses sechste Kind tatsächlich gegeben hatte. Den Rest würde er dann von ganz allein verstehen.
In den Besuchertoiletten stand das Fenster sperrangelweit offen. Doch das störte
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