Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
bist du gerade?«, fragte er.
»Guido, ich …« Er seufzte. »Zu Hause.«
»Wie bitte? Hast du mich deswegen hier sitzen lassen? Weil du schon mal nach Hause fahren wolltest?«
Kellers Stimme klang erschöpft. »Hör zu, ich hab jetzt echt keinen Bock auf so was. Das mit Köln, das tut mir leid. Ich mach’s wieder gut, okay? Aber es ging einfach nicht anders.«
»Vergiss das mit Köln«, sagte Gratczek. »Ich hab hier was anderes. Eine Sensation. Du musst Walther Vornholte ins Präsidium holen. Und zwar sofort.«
»Walther Vornholte?« Keller war mit einem Mal voll bei der Sache. »Was ist passiert?«
»Es geht um Hanne, um seine Frau«, sagte Gratczek. »Hanne Schulte-Stein.«
Und dann berichtete er in allen Einzelheiten, was er in der vergangenen Stunde erfahren hatte. Während er sprach, betrachtete er das breite Kreuz des Mittvierzigers, der hinter der Scheibe saß und auf ihn wartete.
»Ich komme, so schnell ich kann«, schloss er seinen Bericht. »Aber du musst Walther Vornholte ins Präsidium holen.«
»Gut. Ich mach mich sofort auf den Weg. Fährst du mit dem Zug? Dann hole ich dich vom Bahnhof ab.«
»Nein, das wird nicht nötig sein. Ich lass mir was einfallen.«
Bevor Gratczek ins Wohnzimmer zurückkehrte, wählte er eine weitere Nummer. Vor Kurzem hatte er sie noch aus seinem Adressbuch löschen wollen, doch dann hatte er es doch nicht getan. Nun war er dankbar dafür.
Gleich nach dem ersten Läuten wurde abgenommen.
»Hallo, ich bin’s. Ich weiß, ich hab mich schon lange nicht mehr gemeldet. Ich bin in Köln, nicht weit von dir entfernt. Hör zu, du musst mir einen Gefallen tun. Kannst du mit dem Auto kommen und mich nach Münster fahren?«
Die Stimme am anderen Ende klang nicht begeistert. Natürlich nicht. Guido hatte sich nicht gerade wie ein Gentleman verhalten, damals, als ihre Affäre auseinanderging. »Ich würde dich nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre. Bitte.«
Kurzes Schweigen am anderen Ende. »Na gut. Wo soll ich dich abholen?«
»Danke, Achim. Du hast was bei mir gut.«
Er nannte die Adresse und steckte sein Handy ein. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer. Der Mann mit dem Goldkettchen sah auf. Es lag noch immer Trauer in seinen Augen.
»Und? Haben Sie alle Anrufe erledigt?«
»Ja, ich werde gleich abgeholt.«
Er nickte. Dann überblickte er noch mal die Fotos, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen.
»Hatte mein Vater denn etwas mit dieser Sache zu tun? War er in die Morde verstrickt?«
Gratczek warf einen Blick auf das Foto, das einen freundlich dreinblickenden älteren Herrn zeigte.
»Nein, da bin ich mir ganz sicher.«
»Aber wenn er sich nicht auf die Suche gemacht hätte, wäre das alles nicht passiert, oder? Er hat den Stein ins Rollen gebracht.«
»Das wissen wir nicht«, sagte Gratczek. »Denken Sie nicht mehr darüber nach. Keiner kann das sagen.«
Natürlich war das eine Lüge. Aber er wollte ihm die Wahrheit ersparen. Eine Weile saßen sie noch zusammen und redeten über seinen verstorbenen Vater. Irgendwann hupte draußen ein Wagen, und Gratczek stand auf und verabschiedete sich. Er musste weiter. Er musste so schnell wie möglich nach Münster.
Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als Carl aus seinem Nickerchen erwachte. Er gähnte. Die Düster lag blau und frostig im Halbdunkel, Nebel stieg auf, und am Himmel ließ sich bereits der Nordstern ausmachen. Eine kalte, sternenklare Nacht stand ihnen bevor. Der Winter war endgültig in Düstermühle eingekehrt.
Carl fühlte sich nach dieser Ruhepause besser, seine Beine schmerzten nicht mehr. Auf dem Stövchen neben seinem Sessel dampfte ein Kännchen mit Kamillentee, das Teelicht war noch immer nicht heruntergebrannt. Er goss sich eine Tasse ein und genoss die Wärme. Er hatte geträumt, Mia wäre da gewesen. Sie hatte neben ihm im Sessel gesessen und ihren Kopf an seine Schulter gelegt. »Heute sehen wir uns wieder, Carl«, hatte sie gesagt. »Noch ehe der Tag zu Ende ist.« Ihre Nähe war deutlich zu spüren gewesen, so intensiv wie seit Langem nicht mehr. Es war ein schöner Traum gewesen.
Seit Siegfrieds Tod hatte Carl viel seltener an Mia gedacht, und seit Rosas Tod fast gar nicht mehr. Seine Gedanken waren rund um die Uhr bei den schlimmen Ereignissen der letzten Tage gewesen. Umso erstaunter war er, ausgerechnet jetzt in einer solchen Intensität von Mia zu träumen. Es war beinahe, als wäre sie im Raum gewesen. Selbst die Luft schien noch nach ihr zu riechen.
Carl wärmte sich an
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