Dumm gelaufen: Roman (German Edition)
Sämtliche Aspekte des Problems beleuchten. Ganz ehrlich: Wenn diese Gorillas nicht so groß und schwarz und stark wären, wären sie längst ausgestorben.
Robby schiebt die Gummilamellen zur Seite: »Alles klar.«
Puh.
Ich treffe Kong alleine in seinem Gemach an. Was bis jetzt noch nie vorgekommen ist. Keine Chica, die ihm das Fell laust, niemand, der ihm das Mark aus den Holunderzweigen lutscht. Überhaupt habe ich ihn so noch nie gesehen. Er liegt auf seiner Euro-Palette, den Rücken gegen die gräulichen Fliesen gelehnt, schubst mit den Zehen den Lkw-Reifen an, der an einem Strick von der Decke hängt, wartet, bis er zurückschwingt, schubst ihn an, wartet, bis er zurückschwingt, schubst ihn an und so weiter. Als er mich sieht, hält er den Reifen an, und seiner Kehle entsteigt ein mittelalterliches Rasseln. Dann geht es von vorne los: Reifen vor, Reifen zurück, Reifen vor …
Wir hatten letztes Jahr ziemlich viel miteinander zu tun, ich und Kong, insbesondere wegen der Magenta-Geschichte. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass dabei so etwas wie freundschaftliche Bande entstanden wären. Das ist schon deshalb ausgeschlossen, weil Kong keine Ahnung hat, was das ist. Andererseits lässt Kong sich nicht in die Karten gucken. Was ich sagen will: Wir sind nicht gerade Blutsbrüder, aber wir respektieren einander.
»Jo, Kong – wie läuft’s?«, frage ich.
Er antwortet nicht. Stattdessen ist von irgendwo ein kaum hörbares Piepsen zu vernehmen. Langsam verschwindet seine Monsterpranke unter seiner felligen Achsel. Ich gebe zu, das macht mich nervöser, als mir lieb ist. Um ehrlich zu sein, das Gerede von »wir respektieren einander« und so – also, möglicherweise hab ich mich da etwas weit aus dem Fenster gelehnt. Gemeint war vor allem: Ich respektiere Kong. Was mit ihm ist … Wie bereits erwähnt, er gibt nicht viel von sich preis.
Unauffällig blicke ich mich um, dabei weiß ich: Wenn er jetzt eine Luger aus dem Fell zieht, um mir damit, aus welchem Grund auch immer, den Schädel zu zersieben, gibt es für mich keinen Ort, an dem ich Deckung suchen könnte. Es sei denn, ich schaffe es schneller in die rote Plastikröhre zurück, als er auf mich anlegen kann. Unwillkürlich schieben sich meine Klauen im Rückwärtsgang über den Boden.
Bedächtig zieht Kong seine Pranke zurück, ich setze zum Sprung an, und dann sehe ich, dass es keine Luger ist, die er hervorzieht, sondern ein … Fieberthermometer?
Kong blinzelt das Thermometer an, das in seinen Pranken wie ein Q-Tip aussieht, versucht, die Zahlen auf dem Display zu erkennen, zerdrückt es und lässt es in Form haferflockengroßer Plastikteilchen hinter die Palette rieseln.
»Wafüdizum?«, krächzt er.
Wer glaubt, Marlon Brando hätte in »Der Pate« genuschelt, der hat noch nicht versucht, mit Kong zu reden. Klingt wie ein Stadtbus der alten Generation, wenn er angelassen wird und eine Rußwolke ausstößt.
»Geht’s dir nicht gut?«, frage ich.
»Hgh?«
Ich deute auf das zerbröselte Thermometer. »Hast du Fieber?«
Er räuspert sich. Danach schlackern meine Trommelfelle wie alte Gebetsfahnen.
Ich warte, bis das akute Schrillen abgeklungen ist. Dann wiederhole ich: »Hast du Fieber?«
Er brummelt etwas, aus dem ich das Wort »wahrscheinlich« destilliere.
»Aber hast du nicht eben Fieber gemessen?«
»Hat nicht funktioniert«, grummelt er.
»Ich könnte deine Stirn befühlen?«, schlage ich vor.
»Wenn du in diesem Leben sonst nichts mehr vorhast …«
Okay, war nur ein Angebot. »Aber du siehst irgendwie … mitgenommen aus.«
»Roobiribi.«
»Äh … Wie war das?«
»Tooderipp.«
Puh. »Krieg ich
noch
’ne Chance?«
»To-de-gripp.«
Todesgrippe? Hab ich noch nie von gehört. Ich versuche, echt wahnsinnig besorgt und so weiter zu klingen: »Todesgrippe? Heißt das, du wirst sterben?«
»Warum sollte sie wohl sonst ›Todesgrippe‹ heißen?«
Hm.
Ich frage mich, ob es diese Todesgrippe tatsächlich gibt und wie das wäre, wenn Kong sterben würde. Auf eine nicht zu erklärende Weise würde er mir fehlen. Doch. Schon. Ich meine, niemand will so einen wie ihn, einen, der sich nicht einmal die Mühe macht, nach einem Grund zu suchen, wenn er dich aus dem Weg pustet, der seine eigenen Gesetze macht, wie es ihm passt, und alle anderen müssen sie befolgen. Und dennoch: Er würde mir fehlen …
»Tut mir leid, das zu hören«, sage ich und klinge nicht nur betroffen – ich bin es.
Der Reifen beginnt wieder,
Weitere Kostenlose Bücher