Dummendorf - Roman
…«
Mitja winkte bittend ab.
»… aber so empfinde ich es. Vor uns liegt das Jüngste Gewissen. Wenn alles Geheime offenbar wird. Wenn den Menschen, die uns geliebt und an unsere Liebe geglaubt haben, all die Gemeinheiten offenbar werden, die wir über sie gedacht und hinter ihrem Rücken gesagt haben, unser ganzes verdorbenes Inneres. Sie werden dastehen und uns anschauen – mit der ganzen Schutzlosigkeit ihrer Liebe. Und wir werden sie anschauen. Und uns nicht mehr verstecken, nicht mehr die Augen niederschlagen, nicht mehr im Erdboden versinken können.«
»Du redest vom Jüngsten Gericht, oder?«, erkundigte sich Mitja vorsichtig.
»Ja. Gericht deshalb, weil wir selbst uns richten, wenn es geschieht.«
»Du musst entschuldigen. Ich glaube nicht an all das. Vielleicht kommt ja tatsächlich noch irgendwas, nach dem Tod. Aber ganz bestimmt nichts, was wir uns vorstellen können. Und sein Leben nach Vorstellungen vom Jenseits auszurichten …«
»Ist dumm!«, ergänzte Nastja mit entwaffnender Bereitwilligkeit.
»Nicht doch.« Mitja war verlegen. »Aber man kann nur über etwas reden, worüber man Bescheid weiß. Und es gibt Dinge, die können wir nicht wissen. Von dort ist noch niemand zurückgekehrt.«
»Niemand – wieso?!«, entgegnete Nastja erstaunt.
Nun endlich nahm das Rätsel Nastja in Mitjas Kopf Gestalt an, angefangen mit ihrer Begegnung vor der Kirche, und für ihre sonderbaren Reden gab es eine rationale Erklärung.
»Entschuldige, dass ich mit dir gestritten habe«, sagte er erleichtert. »Ich habe nicht gleich kapiert, dass wir verschiedene Sprachen sprechen. Wie ein Tauber und ein Stummer. Das ist nutzlos.«
»Aber besuchen Sie uns trotzdem mal wieder«, bat Nastja unpassend. »Hier bin nur ich so verrückt, Ehrenwort!«
»Das ist wirklich erstaunlich«, sagte Mitja nachdenklich. »Und die anderen? Was treibt die an?«
»Das können Sie sie ja fragen! Werden Sie kommen?«
»Mal sehen«, knurrte Mitja, dem ihre Hartnäckigkeit unheimlich war.
Vielleicht gehören sie zu einer Sekte?, dachte er, während er den menschenleeren Feldweg entlanglief, umschwirrt von unablässigem Grillenzirpen.
Vor ihm spazierte mit wippendem Schwanz eine verwegene Bachstelze. Sie lief ein Stück voraus, blieb stehen, wartete auf Mitja und floh erneut.
Links lag das krausköpfige, mit Stacheldraht umzäunte Kartoffelfeld des Rentners Gawrilow. Rechts dufteten betäubend herrenlose Blumen, in denen sich Vitka und Ilja Sergeitsch zankten.
»Sag mal ›Kotelett‹!«
»Bitte – Kotelett.«
»Dein Vater ist der Chef vom Klosett!«
»Und deiner ist ein Krimineller!«
»Das ist unfair! Es muss sich reimen!«
»Dann sag mal ›Suppenteller‹!«
»Ruhe, ihr beiden!«, zischte der vernünftige Wanka. »Der neue Lehrer kommt von den Psychos zurück!«
In den Blumen herrschte plötzlich Partisanenstille. Nur eine Hummel in einer Glockenblume brummte im Bass. Mitja, der das ganze Gespräch gehört hatte, lief weiter und musste zum ersten Mal an diesem endlos langen Tag lächeln.
»Er grinst blöd«, flüsterte Vitka. »Hat sich bestimmt angesteckt.«
»Und was wird mit der Schule?«, fragte Ilja Sergeitsch erschrocken.
»Quarantäne«, erklärte Wanka autoritär.
ZEHNTES KAPITEL
Mitjas Geschichte
Zum ersten Mal in seinem Landleben, das unmerklich in friedliche Sommerferien übergegangen war, dachte Mitja nach seiner Rückkehr aus Dummendorf wieder über Geschichte nach. Das überraschende Gespräch mit Sarah und die noch überraschendere Auseinandersetzung mit der armen Nastja hatten ihn zurückgestoßen in das Geleis der freudlosen Gedanken über Vergangenheit und Zukunft und darüber, was er, Mitja, ein langer dünner Pfahl am Schnittpunkt dieser beiden Alpträume, des bekannten und des unbekannten, tun sollte.
Geschichte hatte für ihn in der frühen Kindheit begonnen – als etwas sehr Persönliches, Unheimliches und zugleich Aufregendes. Mitja wuchs in häuslicher Abgeschiedenheit auf, draußen spielen durfte er nicht, damit er sich nicht mit dem Gesindel einließ . An der Hand seiner Großmutter oder einer ihrer Gefährtinnen spazierte er brav die Alleen des Stadtparks entlang, eingemummt in hundert Kleiderschichten, selbst wenn es ganz warm war.
Die für einen Heranwachsenden unerlässliche Dosis Angst, die seine Altersgenossen sich holten, indem sie in Keller und Abwasserkanäle schauten, wo mutierte Ratten und menschenfressende Würmer lebten, schöpfte Mitja aus den Gesprächen der
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