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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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versteckte.
    »Wie können Sie hier leben?«, fragte er entsetzt. »Als wäre der Schädel auf einmal durchsichtig, und die geheimsten Gedanken stünden mit großen Lettern auf der Stirn geschrieben!«
    »Ja, so ist es im Grunde auch.« Nastja lächelte. »Die Krankheit verstärkt eben die Intuition. Aber auf ganz unterschiedliche Weise. Einige ›spezialisieren‹ sich auf negative Momente, wie Lena. Andere dagegen sehen in jedem so viel Gutes, wie nicht einmal wir selbst es in uns erkennen.«
    »Und wer hat recht?«
    »Alle haben auf ihre Weise recht. Wenn die Krankheit den Körper betrifft, wird der Verstand schärfer, und der erfasst nur die Oberfläche der Wahrheit, das, was oben schwimmt und viel Schmutz enthält. Doch wenn der Intellekt betroffen ist, wird die Seele schärfer, die sieht unsere innere Wahrheit, und die ist bei jedem hell.«
    »Wirklich bei jedem?«
    »Ohne Ausnahme!«, erwiderte Nastja überzeugt.
    Da geschah etwas Seltsames. Mitja, von Geburt an ein äußerst gutartiges Geschöpf, bemühte sich stets, Streit und Zank zu vermeiden, doch Nastjas Treuherzigkeit brachte ihn unvermittelt in Rage, sie erschien ihm närrisch, dumm, wie ein rosaroter Traum, der unbedingt zerstört werden musste.
    »Auch bei Stalin und Hitler?«, fragte er empört.
    »Ja!«, bestätigte Nastja, ohne nachzudenken. »Nur der Verstand hindert Sie, das anzuerkennen.«
    »Natürlich! Denn so zu denken ist Wahnsinn! Das sind Menschenfresser! Die haben Millionen Menschenleben verschlungen, ohne mit der Wimper zu zucken! Sie kennen die Geschichte schlecht! Solche Dinge nicht zu wissen, das ist auch Wahnsinn! Und zu leben, als hätte es das alles nicht gegeben, ist Wahnsinn! Menschen haben Menschen mit Gas getötet! Haben mit ihnen Versuche gemacht wie mit Ratten! Und diese Henker sind tief innen hell und gut?! Nur äußerlich ein wenig verdorben?! Was meinen Sie?«
    »Ich«, sagte Nastja gequält, »bringe es nicht fertig, sie zu mögen. Aber im Grunde ist es tatsächlich so.«
    »Du bist dumm, Nastja, entschuldige bitte!«, rief Mitja, der nie gegen irgendwen die Stimme erhob, und stapfte wütend davon.
    Gleich darauf schämte er sich. Er rannte zurück zu Nastja, die noch immer am Straßenrand stand, und sprudelte hastig hervor:
    »Hör zu, diese Hochherzigkeit, dieser ganze erhabene Glaube an den Menschen, das war früher noch möglich, im neunzehnten Jahrhundert zum Beispiel. Und selbst da mit großen Abstrichen. Aber nach allem, was im zwanzigsten Jahrhundert geschehen ist, so zu reden, das ist unmoralisch! Verstehst du?«
    Nastja schwieg, die Hände vors Gesicht geschlagen.
    »Entschuldige«, sagte er etwas leiser. »Ich bin ein Idiot! Dich mit all diesen Fragen zu überfallen. Darauf weiß niemand eine Antwort. Absolut niemand. Ich habe einfach Angst. Was soll weiter werden? Wenn wir es vergessen, wird es sich wiederholen. Doch die Menschen wollen sich nicht erinnern! Sie wollen nichts wissen! Verständlich – wie soll man mit einem solchen Wissen leben? Aber wir dürfen nicht vergessen. Sonst werden wir zu Mittätern, verstehst du?«
    Nastja nickte, und zwei Tränen drangen durch ihre Finger und fielen auf die Straße.
    »Ich bin doch ein ausgesprochenes Scheusal!«, rief Mitja bekümmert. »Ich rede von Moral und bringe ein Mädchen zum Weinen! Spiritualität, Scheiße, Mann , wie euer Dietrich sagt. Und Lena würde sagen, dass ich einfach alle Unannehmlichkeiten und Demütigungen des heutigen Tages auf einem sanftmütigen Geschöpf ablade. Schließlich wurde mir heute zweimal etwas auf den Kopf zugesagt, wofür ich mich furchtbar schäme. Auch von Sarah übrigens, dabei ist sie doch vollkommen gesund, oder?«
    »Ja.« Nastja lächelte; die vom Weinen verquollenen Lippen ließen sie endgültig aussehen wie ein Kind. »Sarah ist schon in so einer Siedlung geboren, im Ausland, ihre Eltern waren dort Freiwillige. Sie kümmert sich nicht bloß um Behinderte, sie ist mit ihnen aufgewachsen. Deshalb ist ihr deren Sprache vertraut. Sie verständigen sich ja oft nicht mit Worten. Aber sie teilen sich mit und verstehen einander nicht schlechter als wir. Manchmal sogar besser.«
    »Besser?«
    »Na klar. Mit Worten kann man leicht täuschen. Doch alles andere ist echt – Mimik, Stimme, Blicke. Da ist der ganze Mensch wie ein offenes Buch.«
    »So zu leben ist ja beängstigend! Wenn man nichts verbergen kann!«
    »Im Gegenteil! Das erinnert uns immer …« Nastja verstummte.
    »Woran?«
    »Vielleicht ist das auch wieder dumm

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