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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Erwachsenen.
    Diese stritten, wenn sie sich zum Tee in der großen Professorenküche versammelten, mit Schaum vorm Mund entweder über unverständliche Wörter, die der kleine Mitja bei sich – wegen des Gleichklangs der Endung – Prismen nannte, oder gaben sich Erinnerungen hin.
    Diese Geschichten der gebildeten alten Frauen seiner Umgebung waren für Mitja das Pendant zu den Schauergeschichten vom Sarg auf Rädern und vom blutroten Laken, an denen sich die freien Straßenkinder in seinem Alter ergötzten.
    Mitja wusste damals noch nicht, dass es für die Ereignisse, die Großmutters Freundinnen schilderten, reale Ursachen und Erklärungen gab, und nahm sie als reinen, unverfälschten Horror, als einen schwarzen Wirbelsturm, der alles auf seinem Weg hinwegfegte.
    Später, als er Geschichte studierte, lernte er die wissenschaftlichen Bezeichnungen für diese kindlichen Alpträume kennen, er gewöhnte sich daran, das wölfische Grauen des Lebens in harmlose Termini zu hüllen, doch tief im Innern wusste er immer, dass sein erster, ursprünglicher Eindruck der einzig richtige gewesen war.
     
    Die majestätische Rimma Lwowna erzählte mit Augen, so riesig wie die der Stute Marussja, ihre eigene Mutter habe sie mitten in der Nacht aus dem Zug geworfen, der an einen Ort fuhr, wo dann alle umgebracht wurden. Die kleine Rimma wurde von Bauern aufgenommen und lebte zwei Jahre lang bei ihnen auf dem Dachboden, ohne ein einziges Mal runterzukommen. Deshalb musste sie später erst wieder laufen lernen.
    Nachdem Mitja diese Geschichte gehört hatte, entwickelte er eine panische Furcht vor Zügen, und da er nie Zug fuhr, übertrug er seine Angst auf Straßenbahnen.
    Großmutters Cousine Lidotschka, die hin und wieder aus Leningrad zu Besuch kam, erzählte eines Tages beim Essen, wie ihre Mutter, die in der Akademie für Militärmedizin arbeitete, einmal ein Versuchskaninchen bekommen hatte, das die ganze Familie dann mehrfach verzehrte: Erst das Kaninchen selbst, dann seine ausgekochten, zermahlenen Knochen.
    Danach wurde der sechsjährige Mitja, wie seine Großmutter es ausdrückte, zum tobsüchtigen Vegetarier – wenn er Fleisch nur roch, wand er sich in Krämpfen.
    Dieselbe Lidotschka erzählte ihm bei einem Spaziergang im Park, ihre Mutter habe sie einmal mit einem Kutter voller Kinder irgendwohin schicken wollen. Aber im letzten Augenblick habe sie es sich anders überlegt und angefangen zu weinen, so dass der Kutter ohne Lida abfuhr. Dann begann ein Beschuss, sie versteckten sich in irgendwelchen Kisten, und als sie herauskrochen, sahen sie, dass der Kutter verschwunden war und auf dem Wasser lauter kleine weiße Sonnenhüte schwammen.
     
    Mitja hörte zu und begriff, dass auf der Welt unumschränkt eine böse Macht herrschte, der man nicht entfliehen konnte. Und leise wimmernd vor Angst wartete er darauf, dass sie in den trügerischen Frieden der Professorenwohnung einfallen würde.
    Sein erster nächtlicher Alptraum war von den Erinnerungen seiner Großmutter geprägt. Mitja träumte, dass mitten in der Nacht zweibeinige schwarze Löwen mit Abzeichen an der Mütze in ihre Wohnung eindrangen. Sie sind eingedrungen und machen, was sie wollen: reißen Papiere aus den Schreibtischschubladen, fegen Bücher aus den Regalen auf den Boden, laufen mit ihren Stiefeln über Urgroßvaters Manuskripte. Und die sonst so herrische und laute Großmutter sitzt auf dem Kinderstuhl in der Ecke und wagt keinen Mucks.
    Kurz darauf wurde Mitja auf Anraten ihres Hausarztes Doktor Solomon in die Vorschulgruppe des Kindergartens geschickt. Doch der therapeutische Effekt, den man sich von dem Kontakt mit Gleichaltrigen versprochen hatte, blieb aus.
    An einem seiner ersten Tage im Kindergarten wurden sie in Zweierreihen ins nächste Kino geführt. Die Erzieherin hatte die Vorstellungen verwechselt, und sie gerieten in einen Trickfilm über die Atombombenabwürfe in Japan. Darin wurde gezeigt, wie lebendige Menschen sich in einem einzigen Augenblick in ein Skelett verwandelten, aber weiterliefen, sogar um Wasser baten, beim ersten Schluck jedoch zu Staub zerfielen.
    So erfuhr Mitja, dem man inzwischen erklärt hatte, dass er vor fremden Erinnerungen keine Angst haben musste, weil sie etwas Vergangenes seien, welche Form das Grauen in seinem eigenen Leben haben würde. Über ihr Haus flogen häufig Flugzeuge, und deren Trauerbrummen wurde für ihn zur Stimme des nahenden Todes. Wenn Mitja dieses scheußliche, an seinem Herzen nagende Geräusch

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