Dummendorf - Roman
hörte, wusste er, dass das Flugzeug gleich eine Bombe über ihm abwerfen und er sich in ein sprechendes Skelett verwandeln würde.
In den Kindergarten ging er nicht mehr, auch die Grundschule versäumte er fast komplett. Irgendwann kam die Großmutter endlich darauf, den Fernseher den Nachbarn zu schenken, weil sie bemerkt hatte, dass jede Nachrichtensendung, in der ja immer irgendetwas explodierte, bärtige Bösewichter aus Maschinengewehren feuerten und Sanitäter Tragen mit blutüberströmten Körpern durch die Menge schleppten, ihren Enkel krank machte.
In der Schule wurde es etwas besser. Mitja fürchtete nun andere, ihm gemäße Dinge: die Mathelehrerin, die mit dem Zeigestock auf die Bank schlug, den Sitzenbleiber Waganow, der Geld erpresste, den in Spiritus eingelegten Frosch im Biologiekabinett, den Direktor, Diktate, Impfungen …
Schließlich kamen Mitjas Eltern aus Kuba zurück, wo sie Russisch unterrichtet hatten. Bis dahin hatten sie in seinem Leben nur als bunte Postkarten mit Palmen existiert und als seltene Anrufe, bei denen der aus dem Bett gerissene Mitja vor Verwirrung nicht wusste, was er sagen sollte.
Mit ihrem Auftauchen begann eine hellere Zeit in Mitjas Geschichte. In der Küche versammelten sich Tabak qualmende fröhliche, starke Menschen, Mitjas braungebrannte Mutter mit den leuchtenden weißen Zähnen sang zur Gitarre Lieder in einer schönen fremden Sprache. Sein unbekannter Vater mit der dröhnenden Stimme nannte Mitja mickerig und meldete ihn zum Schwimmen an.
Im Sommer geschah etwas ganz Unerhörtes: Sie stiegen zu dritt in einen Zug und fuhren ans Meer. Dort bekam Mitja einen weißen Sonnenhut aufgesetzt, fuhr ein paarmal auf einem Kutter mit hinaus und aß jeden Tag wunderbares Schaschlik. Nichts Schlimmes passierte, und Mitja war von all seinen kindlichen Ängsten geheilt.
Doch später, bereits Doktorand an der historischen Fakultät, begriff er plötzlich, dass die ganze Geschichtswissenschaft im Grunde darauf gerichtet ist, das einzig Wichtige aus der Vergangenheit zu vertreiben, nämlich das lebendige Grauen des konkreten menschlichen Schicksals, und die Geschichte schmerzlos und also nutzlos zu machen.
Mitja rebellierte gegen diese Verfälschung, so gut er konnte. Er besuchte die noch lebende Lidotschka, fragte sie aus, nahm alles mit einem Diktiergerät auf und kassierte von seinem wissenschaftlichen Betreuer eine Rüge wegen überflüssiger Emotionalität und fehlender Analyse .
»Wie kann man Suppe aus Holzleim analysieren?«, rief Mitja, und seine Disputation wurde aufs nächste Jahr verschoben.
Bald danach floh er aufs Land. Mit der vagen Idee, sich richtig mit Geschichte zu befassen, also in ihrer menschlichen Dimension.
Doch die Schwalben, die Linden, die sonnigen Wäldchen – diese ganze üppige, blühende Erde, die ihm bis dahin völlig unbekannt gewesen war – hatten Mitja so beeindruckt und betäubt, dass sich sämtliche Gedanken für lange Zeit aus seinem von der Sonne ganz benommenen Kopf verflüchtigten.
ELFTES KAPITEL
Jefim
An diesem Morgen beschloss Jefim, Vater Konstantin seine Ikone zu bringen. Der frühere Pope, der selige alte Michej, hatte beim Anblick der Malerei des Alten erschrocken abgewinkt, mit dem Fuß aufgestampft und ihn aus dem Haus gejagt wie einen Rowdy, obwohl Jefim zwanzig Jahre älter war als er.
Der Alte hatte das Bild wütend hinter die Werkbank geworfen und so getan, als habe er es vergessen. Doch der neue Pope gefiel Jefim überraschend, darum wollte er einen erneuten Versuch wagen. Er schüttelte die Hobelspäne von seinem Werk, wickelte es in ein sauberes Handtuch und machte sich auf den Weg zur Kirche.
Am Zaun wachte finster das Heimkind Kostja.
»Warte«, sagte er, »bei ihm sitzt so ein Kastrat. Der Besitzer vom Sägewerk.«
»Bleibt er noch lange?« Jefim blieb stehen.
»Bis er vom Stuhl kippt.« Kostja spuckte aus. »Ich hab ein Bein angesägt, als die beiden draußen gequatscht haben.«
»Du sollst nicht auf die Erde spucken«, bemerkte der Alte. »Sonst trägt sie dich nicht mehr.«
Kostja grinste schief.
»Pah, jetzt hab ich aber Angst! Komm mir noch mit dem Nachtgespenst Buka!«
Jefim ermüdete dieses sinnlose Wortgefecht, und er ging auf den Hof, in dessen Mitte ein riesiger Jeep aufragte, so groß wie ein Traktor. Er setzte sich unter dem offenen Fenster auf den Sockelsims und wollte ein wenig dösen.
»Mir ist sterbenslangweilig«, sagte über ihm eine hohe, weiblich klingende Stimme.
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