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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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etwas wie ein Außerirdischer, dachte Mitja, und der Gedanke, dass es beiden Seiten ähnlich erging, erleichterte ihn ein wenig.
     
    Am hartnäckigsten von allen war der schielende Stas, der dem Gast unbedingt sein Zimmer zeigen wollte. Mitja hätte am liebsten geschrien:
    »Lasst mich nicht allein!«
    Doch Sarah verschwand in der Küche, sie hatte offenbar entschieden, dass ihre Anwesenheit nicht mehr erforderlich sei.
    »Ich schreibe eine Autobiographie«, verkündete Stas, als sie den Raum betraten, der aussah wie ein Zimmer in einem Studentenheim. »Aber – kein Wort, zu niemandem. Das ist eine Überraschung. Zu meinem Geburtstag will ich fertig sein, ich lasse es drucken und verschenke es an alle. Mit Autogramm!«
    Auf einem schmalen, in die Wand eingebauten Tisch türmten sich Haufen mit riesigen Buchstaben bedeckter Seiten.
    »Schau mal rein«, bat Stas schüchtern. »Wie ist es – vom Stil her?«
    Mitja krümmte sich innerlich vor Peinlichkeit und nahm einige Blätter in die Hand. Auf jedem stand ein und derselbe Satz. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Tisch, kramte sogar in den Blättern – überall standen die Worte, die Stas offenbar ein für allemal in ihren Bann geschlagen hatten:
    Im Augenblick meiner Zeugung war mein Vater betrunken, und meine Mutter betete.
    »Und weiter?«, fragte Mitja vorsichtig – er hatte eine Heidenangst, etwas Falsches zu sagen.
    »Weiter bin ich noch nicht«, sagte Stas mutlos und kramte in seinem Manuskript. »Ja, tatsächlich, nur der erste Satz. Dabei schreibe ich schon so lange. Seit ich hier bin.«
    »Wahrscheinlich fängst du jedes Mal von vorn an?«, mutmaßte Mitja.
    »Na klar. Ich kann schließlich nicht mit dem Ende anfangen!« Stas lachte.
     
    »Haben Sie die Biographie gelesen?«, empfing ihn Sarah fröstelnd, sie hielt einen großen Becher Tee in den Händen. »Und wie finden Sie es – vom Stil her?«
    »Ist das Phantasie?«, brachte Mitja heraus und setzte sich schüchtern auf die Kante einer langen Holzbank.
    »Nein, wieso? Die reine Wahrheit. Wollen Sie sie wissen?«
    Mitja wollte keineswegs, nickte aber.
    »Seine Mutter war Nonne. Nicht mehr jung. Sie sammelte in der Vorortbahn Geld. Zum Wiederaufbau eines Klosters. Sie war spät dran. Und da hat irgendein Alkoholiker sie vergewaltigt. Bei der Geburt ist sie gestorben. Unser Stas ist im Kloster aufgewachsen. Hier in der Nähe. Doch dann haben ihn die Schwestern zu uns gebracht, weil er inzwischen groß war – ein Mann. Da durften sie ihn nicht bei sich behalten.«
    »Sie sind doch Historiker?«, fragte Sarah nach einigem Schweigen.
    Mitja nickte erneut.
    »Das ist ja in gewisser Weise auch Geschichte. Hier hat jeder seine Geschichte. Lena zum Beispiel ist Flüchtling. Aus Kasachstan. Aber ihre Geschichte – nein, das ist wohl noch zu früh für Sie … Ich glaube, wenn ich Historikerin wäre, würde ich solche Geschichten aufschreiben – über Menschen, nicht über Politik.«
    »Ja, ja!« Mitja sprang auf. Ein Gespräch über Geschichte hatte er an diesem unheimlichen Ort am wenigsten erwartet. »Das empfinde ich schon seit langem. Wie soll ich es sagen? Die schreckliche Verlogenheit der Geschichtswissenschaft. Jede Verallgemeinerung ist unweigerlich der Ideologie unterworfen. Fakten sind keineswegs unerschütterlich, sie sind infam: Sie lassen sich in jede Richtung beugen. Hier etwas weglassen, dort etwas abrunden – und fertig ist die neue Konzeption. Wenn es irgendwo eine Wahrheit gibt, dann nur in einfachen menschlichen Zeugnissen. Aber …«
    »Vor den Menschen fürchten Sie sich ja«, schloss Sarah seelenruhig, und Mitja fühlte sich, als habe er sich mit heißem Wasser verbrüht.
     
    Da kam zum Glück Nastja in die Küche, warf einen Blick auf den verbrühten Mitja und bot großzügig an, ihn zur Straße zu begleiten. Das Haus zu verlassen dauerte fast eine halbe Stunde. Mitjas neue Bekannte griffen nach seinen Händen, schmiegten sich an ihn, schauten ihm in die Augen und fragten, wann er denn wiederkomme.
    »Niemals!«, rief Lena, die noch immer auf der Veranda saß. »Er hat fürs ganze Leben genug gesehen!«
    »Nein, wieso denn«, murmelte Mitja, obwohl Lena vollkommen recht hatte.
    In diesem Augenblick begriff er endlich, dass nicht die offenkundige Missgestalt der hiesigen Bewohner am schwersten zu verkraften war, wie er den ganzen Tag gedacht hatte, sondern ihre unglaubliche Hellsichtigkeit, die seine eigenen Defekte zutage treten ließ, auch solche, die er vor sich selbst

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